Marvels Snapshots – Alltagshelden

Superhelden sind beliebt. Das zeigt nicht zuletzt der Erfolg der Blockbuster-Filme des Marvel Cinematic Universe. Und mehr als nur ein paar Menschen dürften sich wünschen, es gäbe die maskierten Streiter für das Gute wirklich, um in unserer Gegenwart, in der Regierungen und Militär an den Krisen der Welt scheitern, für Ordnung zu sorgen. Aber wie lebt es sich so als Normalbürger, wenn Halbgötter unter uns wandeln? Der vorliegende Comic geht dieser Frage in vier Kurzgeschichten nach.

von Kurt Wagner

Der Gedanke, sich zu fragen, wie sich das Leben von gewöhnlichen Menschen unter dem Einfluss von Superhelden und -schurken gestaltet, ist keineswegs neu. Schon Supermans Sidekick, der junge Fotograf Jimmy Olsen, brachte letztlich die menschliche Perspektive in die Abenteuer des Stählernen von Krypton. Enge Freunde, Geliebte und Vertraute, wie etwa Spider-Mans Mary-Jane Watson oder Iron-Mans Pepper Potts, schlugen die Brücke vom Leben der Supermenschen zum Alltag – ganz abgesehen davon, dass sie Kostümträgern in der Interaktion eine menschliche Note, eine verletzliche Seite verliehen.

Dennoch stellen solche Figuren wie Jimmy, Mary-Jane und Pepper irgendwie immer eine Insiderperspektive dar. Sie kennen das Super-Leben, seine Regeln, seine Gefahren, sind Teil des elitären Kreises, in dem Captain America mit Thor ein Bier trinkt und Hawkeye mit Black Widow vor der Playstation abhängt. Es ist eine eigene, etwas entrückte Welt, etwa so wie die der Hollywoodstars, die diese Figuren im MCU verkörpert haben. Und die Kassiererin am Supermarkt oder der Taxifahrer auf der Straße hat in der Regel nur damit zu tun, wenn gerade mal wieder über New York oder Metropolis die Fetzen fliegen – oder wenn Deadpool zu einem Einsatz gefahren werden muss (natürlich ohne zu zahlen, eine dicke Geldbörse würde schließlich die schlanke Linie unter dem Spandex-Anzug ruinieren).

Genau diese Menschen rückt „Marvels Snapshots – Alltagshelden“ in den Fokus. Dabei sagt der etwas komplizierte dreiteilige Titel des 140-seitigen Softcoverbandes schon viel über den Inhalt aus. So sieht sich der Comic-Band in der Tradition des mit dem Eisner Award prämierten Comic-Events „Marvels“ von Kurt Busiek und Alex Ross aus dem Jahr 1994. In diesem vierteiligen Epos, das erst kürzlich (2019) zum 80. Geburtstag von Marvel, um einen 16-seitigen Epilog ergänzt, erneut als Sammelband herausgebracht wurde, erzählen Busiek und Ross schlaglichtartig die Geschichte der Marvel-Helden auf Erden neu – und zwar aus der Perspektive des Fotoreporters Phil Sheldon. Dieser erlebt vom Ende der 1930er bis zur Mitte der 1970er als ganz gewöhnlicher Mensch mit, wie zahlreiche Marvel-Superhelden erstmals auftreten und wie sie einige ihrer berühmtesten Momente erleben. Diese Lebensgeschichte ist – das nur eingeworfen – ganz großes Kino, emotional tiefgründig erzählt und grandios gezeichnet. Man muss den Comic aber nicht kennen, um das vorliegende Werk genießen zu können.

„Snapshots“, natürlich ein Verweis auf Phils Beruf als Fotograf, geht dagegen den Weg der Kurzgeschichten-Anthologie, in der – wie schon gesagt – die „Alltagshelden“ zu den zentralen Figuren werden. Wobei „Helden“ hier sehr weit ausgelegt wird. „Ganz normale Menschen, die einfach besser sein wollen, als sie sind“ könnte man sie auch nennen, was sie vielleicht wirklich schon zu Helden macht.

In der ersten Geschichte lernen wir die Kleinkriminellen Ronnie und Victor kennen. Während Ronnie unbedingt ein Superschurke werden will, in Ermangelung von Mutationskräften eben mit einem Superanzug, ist Victor unzufrieden mit seinem Dasein. Er möchte mehr, will sauberer leben. Als er Ronnies Schwester trifft, scheint sich ihm eine Chance zu bieten. Wäre da nicht das leidige Geld. Autor und Zeichner Howard Chaykin entwirft eine schmutzige, triste Welt, in der die Superhelden vor allem Störenfriede sind, die während ihrer ständigen Kämpfe mit Superschurken den U-Bahn-Verkehr lahmlegen, das Sportstadion demolieren oder für Verkehrsstaus in der Innenstadt sorgen, weil wegen ihnen mal wieder ein Viertel abgesperrt werden muss. Zynisch und genervt reagieren die meisten New Yorker nur noch, egal ob auf der Straße oder im ständig laufenden Radio. Eine Welt, aus der man, wie Victor, nur noch ausbrechen möchte.

Die zweite Story von Barbara Randall Kesel und Staz Johnson führt uns in die frühen 80er, in denen die junge Sanitäterin Kerry nach New York zieht, um ihr Glück zu machen. Doch neben der ständigen Wohnungssuche gerät sie auch immer wieder in Superheldenaktionen. Eine davon, ein Kampf gegen einen Riesenroboter, zwingt sie in einen Schutzbunker. Um sich und die anderen von ihrer Angst abzulenken, erzählt sie von ihrer ersten Begegnung mit den maskierten Gerechtigkeitskämpfern. Ein junger Cop nimmt den Faden auf, und so bildet sich ein Mosaik aus Erfahrungen, die zeigen, dass das Leben in New York einfach verrückt ist. So verrückt, dass man inmitten von Krisen sogar die Liebe finden kann.

Die dritte Geschichte von Saladin Ahmed und Ryan Kelly ist in der Ära des „Civil War“ angesiedelt, als ein Regierungsprogramm, das die Registrierung und Überwachung von Mutanten erzwang, die Reihen der Helden spaltete. Rechts standen die Regierungstreuen unter Iron Man, links die Verteidiger von Freiheit und staatlicher Unabhängigkeit unter Captain America. Im Mittelpunkt steht ein kleiner SHIELD-Agent – die Behörde, die sich um Super-Angelegenheiten kümmert –, der eigentlich seinen Idolen immer nur nahe sein wollte, sich aber nun als Mitläufer in einer quasi-faschistoiden Organisation wiederfindet, deren Beamte auch nicht davor Halt machen, minderjährige Mutanten wegzusperren und zu misshandeln. Natürlich kommen ihm Zweifel an seinem Tun.

Zum Abschluss erzählen Mark Waid und Claire Roe von einer Highschool-Schülerin, die als Aktivistin die Welt zu einem besseren Ort machen will und sich für Klima und die Rechte von Minderheiten viel Ärger mit ihren Lehrern einhandelt. Ihre Mutter bringt dafür wenig Verständnis auf, und so beginnt sich Jenni zu fragen, wer sie eigentlich ist oder sein sollte. Eine unerwartete Begegnung mit zweien ihrer größten Superhelden-Idole – die ganz eigene Geschichten zum Thema Unterdrückung in ihrer persönlichen Vergangenheit zu erzählen haben – ändert alles für die junge Frau.

Eine Beurteilung all dieser Geschichten fällt mir aufrichtig schwer. Jede für sich genommen ist nett, bietet interessante Perspektiven auf das Leben mit Superhelden und hat auch inspirierende Momente. Man braucht keinen Anzug und kein Mutanten-Gen, um gut zu sein. Da genügen Wille, Mut und Beharrlichkeit. Trotzdem packen einen die Geschichten nicht richtig. Es sind halt Momentaufnahmen normaler Leute mit normalen Probleme, die eine Begegnung mit dem Supermenschlichen haben. Da fehlt einfach das große Drama, was sicher auch dem Platz geschuldet sein mag. Man liest die Geschichten, denkt sich: „Ach, ja, nett gemacht.“ Und dann vergisst man sie wieder. Vielleicht passt das sogar, denn das Leben von uns Gewöhnlichen ist einfach in der Regel so: Es läuft vor sich hin. Aber ist das 17 Euro wert?

Was ich auch vermisst habe, ist etwas Vielfalt in Sachen Gesellschaftsschichten. Mit einem Kleinkriminellen, einer jungen Sanitäterin, einem niederen SHIELD-Agent und einer Schülerin bewegen wir uns komplett auf eher unterem Gesellschaftsniveau, bei den ganz einfach Leuten, so als bräuchten die Macher das, um den Abstand zu den Superhelden (den vermeintlich „Reichen und Schönen“) möglichst groß zu gestalten. Aber wie lebt es sich als – beispielsweise – Intellektueller mit den Maskierten, wie als Künstlerin, vielleicht als Hollywoodstar oder Industrieboss? Wie nimmt man als Person vom Land oder gar im Ausland Leute wie Captain America oder Iron Man wahr, also wenn man wirklich weit weg ist von New York? Klar, es sind nur vier Geschichten, die können keine ganze Gesellschaft, geschweige denn Welt, abbilden. Und die Perspektiven – Krimineller, Alltagsheldin, Halb-Insider und Schülerin – haben schon jeweils ihren eigenen Ansatz. Aber wenn die Macher das Thema erneut aufgreifen, wäre ein noch breiterer Fokus sicher spannend.

Fazit: „Marvels Snapshots – Alltagshelden“ erzählt kurze Geschichten von einfachen Menschen, die fern aller elitären Kreise das Wirken von Superhelden und -schurken in ihrer Welt erleben. Mal werden die Kostümträger nur als Störenfriede des Alltags empfunden, mal als Bedrohung, mal als Inspiration. Die vier Geschichten sind vom Umfang und Inhalt eher klein und eine Lektüre für Zwischendurch, kein Kracher, der einen an die Seiten fesselt. Für Kenner als Nischenprodukt zweifellos interessant, aber Gelegenheits-Superhelden-Lesern würde ich eher das Ursprungswerk „Marvels“ von Busiek und Ross empfehlen.

Marvels Snapshots – Alltagshelden
Comic
Howard Chaykin,  Barbara Randall Kesel, Saladin Ahmed, Mark Waid u. a.
Panini Comics 2021
ISBN: 978-3-7416-2210-6
140 S., Softcover, deutsch
Preis: EUR 17,00

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