Amazing Fantasy

Captain America reitet auf dem Rücken eines Markuslöwen. Statt Rüstung trägt er einen wilden Rauschebart, schwingt eine Wikingeraxt, und sein Schild konnte gerade noch drei Pfeile aufhalten! Auf einem Felsvorsprung unter ihm liegt in lasziver Pose eine leichtbekleidete Elfe, und ein Ork droht dieser die Kehle durchzuschneiden. Ja sag mal, in welchem Universum sind wir denn hier gelandet?

von Daniel Pabst

„Amazing Fantasy“ ist jedem Marvel-Fan ein Begriff. Denn in Heft 15 gab damals Marvels populärer Superheld, Spider-Man, sein Debüt. Letztes Jahr wurde eine neuwertige Kopie dieser Ausgabe zum teuersten jemals verkauften Comic-Heft. Für stattliche 3,6 Millionen Dollar wechselte das Heft aus 1962 seinen Eigentümer. Im Laufe der Jahre hat Marvel Comics mehrere Versuche getätigt, der „Amazing Fantasy“-Reihe wieder Leben einzuhauchen. So tritt dieser Comic, geschrieben und gezeichnet von Kaare Andrews, in sehr große Fußstapfen. Erschienen ist er in Deutsch bei Panini Comics, und umfasst er 148 Seiten, wovon die letzten Seiten eine Cover-Galerie, einen Einblick in den Arbeitsprozess sowie das „Prelude“ als Bonus-Geschichte über Wolverine zeigen.

Das Cover von „Amazing Fantasy“ hat ebenfalls Kaare Andrews gestaltet. Und das sieht vielversprechend aus. Das liegt zum einen an dem Großformat (31,9 x 21,5 cm), in dem die fünf Kapitel abgedruckt wurden. Zum anderen kommt das daher, dass das Titelcover, wie die weiteren Cover in diesem Band, eine Reminiszenz an den „Master of Fantasy“, Frank Frazetta, sind. Um diesen Comic also noch besser einordnen zu können, sei daher der folgende kurze Ausflug in die Comic-Vergangenheit gestattet – mit dem Fokus auf Frank Frazetta:
 
Frank Frazetta (1928-2010) gilt als einer der prägendsten Künstler für Cover von Horror-Comics. Die von ihm geschaffenen 29 Titelmotive für die „Warren Publishing Co.“ haben Kultstatus erworben. Da wären zum Beispiel die Cover des Magazins „Creepy“, wie „The Executioner“ (Nr. 17, 1967), sowie die Cover für das Magazin „Eerie“, wie „Swamp God“ (Nr. 5, 1966) und „Egyptian Queen“ (Nr. 23, 1969), aber auch die Serie „Vampirella“. Darüber hinaus malte Frazetta Bilder, die als Buchcover dienten, wie „Conan the Adventurer“. Der das Publikum fixierende, muskelbepackte Barbar, an dessen Bein sich eine Schönheit klammert, schuf sogleich den Ausgangspunkt für Frazettas Erfolg im „Sword-&-Sorcery“-Fantasy-Genre. So fußte die neue Kaufbegeisterung der Conan-Romane auf den bildgewaltigen Covern. Stets fallen bei näherer Betrachtung von Frazettas Kunst die pyramidenartige Anordnung und das Spiel mit Kontrasten auf. „Klassiker“ hierfür sind „Death Dealer“ (1973) und „A Princess of Mars“ (1970).

Manch einer warf Frazetta vor, sich zu wiederholen und klischeehaft aufrechte, männliche Helden zu zeigen, die über eine Kreatur triumphieren und sich mit einer spärlich bekleideten (exotischen) Frau umgeben. Andere sahen keinen überflüssigen Körperkult bei Frazetta, sondern eine fantasievolle, überzeichnete Kunst, in der Männer und Frauen gleichberechtigte Heldenfiguren sind. Am besten schaut man sich selbst eines der (wenigen) Science-Fiction-Bilder Frazettas mit dem Titel „Dawn Attack“ (1991) an, und fragt sich, zu welchem Lager der Betrachtenden man sich zählen möchte – und hört sich danach vielleicht an, wie Frazetta zu seiner Kunst stand: „You just see shapes. You say hey that’s great. That’s basically what art’s all about, you know. Shapes, balance, design, color. Same with music and so. Anything in life (…)” (https://www.youtube.com/watch?v=jo-brNlHWOE&ab_channel=Writers%26IllustratorsoftheFuture). Funfact: Die Kunst Frazettas soll der Anstoß für das Design des ikonischen Bikinis von Carrie Fisher als Leia Organa in George Lucas’ „Star-Wars“-Kinofilm „Die Rückkehr der Jedi-Ritter“ (1983) gewesen sein …

Kehren wir nun aber zurück zum Ausgangspunkt, dem Comic – „Amazing Fantasy“ – von Kaare Andrews: Neben den starken Covern sehen wir hier drei bekannte Marvel-Figuren, die sich in einer fantastischen Welt wiederfinden, in welcher Froschmenschen von Vogelmenschen angegriffen werden und um Spider-Man kämpfen. Drachen, ein Markuslöwe, Orks, magische Frauen mit Feuerwaffen und Dschungel-Kriegerinnen stoßen hinzu – vereint auf einer seltsamen Insel. Der Zeichenstil und die Farben von Kaare Andrews nehmen diese Vielfalt auf, was sich daran zeigt, dass die drei Marvel-Figuren jeweils eine eigene Farbgebung begleitet; gleichzeitig entsteht ihr kontrastreiches Bild erst durch gedämpfte, schlammige und unaufdringliche („low-key“) Farben. Auch durch diesen Effekt fühlt man sich bei „Amazing Fantasy“ weit in der Zeit zurückversetzt und darf sich eines neuartigen Pulp-Magazins aus dem Jahre 2022 erfreuen. Wer die Marvel-Geschichtenreihe „What If…?“ kennt, der erhält einen ähnlichen Spin, nur dass er in die „Sword-&-Sorcery“-Fantasy entführt.

„Nichts ist je so, wie wir es erwarten“, hört Natasha Romanoff, alias Black Widow, den Leibwächter des Königs, einen Zentaur, sagen, und schon wollen Verräter das Königreich übernehmen. Da zahlt es sich doch aus, dass Natasha als Agentin ausgebildet wurde, denn mir nichts, dir nichts steht der König in ihrer Schuld. Eine Märchengeschichte mit einer russischen Prinzessin? Derweil ist Captain America beim Katzenvolk als Tarzan unterwegs und rettet eine blonde Schönheit namens Madchen (die an die Comic-Figur „Sheena – Königin des Dschungels“ erinnert) vor Orks. Gemeinsam gehen sie unter dem Motto: „Die Zukunft für das Heute opfern bringt kein Morgen“ auf Orkjagd, um den Stamm zu befreien. Spider-Man wiederum fliegt nicht mittels seiner Spinnenfäden durch die Lüfte, sondern sitzt auf einem Drachen, trifft auf seinen Onkel Ben und fühlt sich zu einer mutigen, attraktiven Frau hingezogen. Wer geht hier wem ins Netz?

Fazit: Wortwitz, jede Menge Sprüche, wie „Die Tür ist offen, falls du den Mut findest, dich zu überwinden“; dazu Anspielungen, haufenweise Action und Pulp-Fiction gibt es in „Amazing Fantasy“. Die Marvel-Helden bringen den Stein dafür ins Rollen. Schnell hat er Fahrt aufgenommen und rollt unterhaltsam und – komischerweise – tiefsinnig auf sein Ende zu. Ein lesenswerter Marvel-Einzelband, den Panini Comics da veröffentlicht hat.

Amazing Fantasy
Comic
Kaare Andrews
Panini Comics 2022
ISBN: 978-3-7416-2602-9
148 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 29,00

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