Marvel Enzyklopädie

Bis vor ein paar Jahren waren Marvel-Comics noch ein Unterhaltungsmedium in der Nische der Nerd-Kultur. Dann kamen die MCU-Filme und plötzlich waren Namen wie Iron Man, Thor, Captain America und Black Widow in aller Munde. Mittlerweile ist die Marvel-Präsenz auch hierzulande explodiert und manch einem schlackern die Ohren ob der Vielfalt an Helden und Schurken. Für den ultimativen Überblick gibt es jetzt die „Marvel-Enzyklopädie“.

von Frank Stein

Was für ein Kraftakt dieses Buch gewesen sein muss, ahnt man bereits, wenn man es das erste Mal in die Hand nimmt. Gute 25x30 cm groß, über 2,5 kg schwer und 448 Seiten stark – so präsentiert sich der Brocken von einem Nachschlagewerk. Eine bunte Truppe Helden und Schurken begrüßen den Leser auf dem Cover – Spider-Man, Thor, Black Panther, Captain America und mehr – und geben bereits einen Hinweis darauf, was in diesem Buch Programm sein wird. Deutlicher wird das Ganze, wenn man das Buch wendet. „Atemberaubende Einblicke in die spektakuläre Welt der MARVEL Comics“ verspricht der Text auf der Buchrückseite. Und, noch wichtiger, über 1200 Charaktere im Porträt, wobei, das verrät das Pressebeiblatt, über 2000 Illustrationen den Inhalt auflockern sollen. Das sind schon Ansagen, allerdings ist auch der Preis entsprechend: Mit immerhin 59,95 Euro schlägt das Werk zu Buche. Damit ist es  eher ein Werk für Comic-Liebhaber als für den Gelegenheits-Fan.

Was für ein Prestigeprojekt die Enzyklopädie für Marvel war und ist, zeigt sich auch an der Liste der Mitwirkenden. So gehören zu den neun Hauptautoren unter anderem der ehemalige Chefredakteur von Marvel, Tom DeFalco, Marvels erster offizieller Archivar, Peter Sanderson, Senior Vice President of Publishing bei Marvel Comics, Tom Brevoort, sowie namhafte Franchise-Sachbuchautoren wie Daniel Wallace, Matt Forbeck und Adam Bray. Das Vorwort verfasste Comic-Urgestein Chris Claremont, eine zusätzliche Einleitung stammt Marvel-Legende Stan Lee – angesichts der Tatsache, dass dieser Ende 2018 verstorben ist und das Buchprojekt in den USA im April 2019 erschienen ist (zwei Jahre vor seiner deutschen Veröffentlichung), dürften Lees euphorische Worte über das ultimative Marvel-Nachschlagewerk eine seiner letzten Amtshandlungen gewesen sein. Ein schöner Abschluss, wenn man so will.



Im Anschluss daran geht es gleich los. Von A bis Z, von Abomination bis Zzzax, liefert das Buch eine erschlagende Fülle an Figurenporträts der Helden und Schurken aus dem Hause Marvel. Unbekanntere Charaktere, wie der Polar-Eternal Ajak, der durchgeknallte Verbrecher Blackout oder Spider-Mans jüngere Schwester Teresa Parker bekommen jeweils nur eine Sechstelseite spendiert, die großen Namen – wie Black Widow, Blade, Galactus und der Ghost Rider – dürfen sich auf einer ganzen Seite ausbreiten. In Ausnahmefällen werden der A-Riege wie Spider-Man, Daredevil, Wolverine und Captain America schon mal zwei bis sogar sechs Seiten spendiert.

Dabei sind alle Einträge gleich aufgebaut. In einem Info-Kasten werden Basisdaten wie der erste Auftritt in einem Comic, Name und Beruf, Herkunft, Größe, Gewicht, Augenfarbe, Haarfarbe und Kräfte aufgelistet. Daneben prangt ein aussagekräftiges Comic-Bild (bei größeren Einträgen gibt es natürlich mehrere). Und in einem Fließtext wird eine mehr oder weniger ausführliche Biografie angeboten, welche die Highlights im Leben der Figur zusammenfasst, wobei das zwangsläufig sehr stichpunktartig bleiben muss. Drei oder vier Sätze (bei den Sechstelseiten-Einträgen) ergeben halt kein umfassendes Bild. Für eine erste Einordnung reicht der Text aber allemal. Die Länge der Einträge ist dabei nicht immer ganz ersichtlich. Warum zum Beispiel Red Skull zwei Seiten Platz eingeräumt wurde, Thanos aber nur eine, oder warum der Punisher zwei Seiten füllt, Doctor Strange aber nur eine, können wohl nur Comic-Spezialisten einordnen.

Eingestreut in diese Figurenporträts sind immer wieder Großereignisse der Historie des Marvel-Universums. So erfährt man auf jeweils zwei bis vier Seiten beispielsweise etwas über das Age of Ultron, den Civil War, das Secret Empire oder die Secret Invasion. Auch Superhelden-Teams werden vorgestellt, allen voran natürlich die Avengers auf gleich fünf Seiten. Aber auch der kanadischen Truppe Alpha Flight, den hippen Asgardians of the Galaxy, Magnetos Terror-Organisation der Brotherhood of Evil Mutants und den Inhumans wird Platz eingeräumt. Fehlen dürfen natürlich nicht die Fantastic Four, die Guardians of the Galaxy, SHIELD und die X-Men! Das Ende bildet ein kurzer Abriss über das Multiversum sowie ein seitenlanges Register, das beim schnellen Auffinden eines gesuchten Helden oder Schurken hilft.



Die Menge an Inhalt ist wirklich umwerfend! Das Buch an einem Stück zu lesen, ist daher auch niemandem zu empfehlen. Es handelt sich ganz klar um ein Lexikon, in dem man nachschlagen kann und soll, wenn man mehr über eine Figur wissen will. Hier liegt der deutliche Fokus dieser Enzyklopädie. Es geht kaum um die Geschichte des Marvel-Universums und praktisch gar nicht um Dinge wie Schauplätze oder Technik. Weder der Stark-Tower noch der Helicarrier oder Professor Xaviers Institut für begabte Jugendliche haben einen Eintrag. Helden, Schurken und Gruppierungen füllen 95% der Seiten, dazwischen sind eingestreut – wie geschrieben – ein paar Großereignisse.

Das Layout ist aufgeräumt – Fließtext auf weißem Hintergrund –, wobei Akzente durch farbige Kästen gesetzt werden. Zum Augenschmaus wird das Werk durch die Masse an Illustrationen, die sich durch die ganze Marvel-Geschichte zieht. Hier wird wahrlich ein Querschnitt an Comic-Kunst aus 80 Jahren geboten, allerdings stammt der überwiegende Teil der Illustrationen, vor allem die größerformatigen, doch aus den letzten zwei Jahrzehnten, allein der schickeren Optik wegen.

Ist das Buch „vollständig“? Natürlich nicht. Bei 80 Jahren an Marvel-Comics könnte das kein Sekundärwerk sein, zumindest kein gedrucktes. Abgesehen davon ist es nach zwei Jahren schon wieder leicht veraltet. Aber das ist ein Schicksal, das es mit allen Begleitbüchern zu lebendigen Franchises teilt. Doch davon abgesehen ist die „Marvel Enzyklopädie“ ohne Frage das umfangreichste Werk zum Thema Helden und Schurken aus dem Hause Marvel, das je von einem Verlag herausgebracht wurde – und als solches ein echtes Schmuckstück in der Sammlung jedes Comic-Fans. (Und jetzt, liebe Menschen bei Dorling Kindersley, hätte ich gern noch das DC-Pendant auf Deutsch.)

Fazit: Egal ob für interessierte Neueinsteiger in die Materie oder für den gestandenen Marvel-Veteranen: Die „Marvel Enzyklopädie“ ist ein prachtvolles Geschenk (auch Selbst-Geschenk) für alle, die Spaß an Superhelden und Schurken haben. Man kann darin nicht nur großartig schmökern, sich weiterbilden und Kurioses entdecken. Das Buch eignet sich auch als Blickfang auf jedem gepflegten Nerd-Coffee-Table. Im Notfall lassen sich mit dem gewichtigen Brummer auch maskierte Schurken niederschlagen. Aber vielleicht überlassen wir diesen Job doch unseren spandexgewandeten Freunden und Weltenrettern …

Marvel Enzyklopädie
Sachbuch
Tom DeFalco, Peter Sanderson, Daniel Wallace u.a.
Dorling Kindersley 2021
ISBN: 978-3-8310-4272-2
448 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 59,95

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