Hof der Feen

Viele Bewohner der Sechsten Welt verbringen ihr ganzes Leben im Schatten großer Ereignisse. Sie erinnern sich an den Crash 2.0 von '64, lesen vom Krieg der Drachen, setzen sich ein Bild von der KFS-Krise zusammen. Ein Erdbeben, das ein geografisch begrenztes Gebiet plötzlich heftig erschüttert und dann ebenso plötzlich verschwindet, mag sich da außer für direkt Betroffene und Geologen nicht besonders welterschütternd ausnehmen. Doch das Tor, das sich damit geöffnet hat, wird viele Leben nachhaltig beeinflußen – auf beiden Seiten ...

von Adaon

Mit „Anarchy“ gab es für die fünfte Edition von „Shadowrun“ ein alternatives Regelwerk. Mit „Hof der Feen“ gibt es nun ein alternatives beziehungsweise zusätzliches Setting, in dem die Runner in der mystisch-magischen Welt der Feen merkwürdige Aufträge erledigen können. Im deutschsprachigen Raum gibt es nur 2000 Exemplare des Buches, mit dem die Spieler eine Meta-Ebene betreten können, welche in vergangener Zeit das Schicksal der Menschheit so stark prägte, dass Jahrtausende später noch Geschichten und Legenden über Feenritter, magische Kreise tief im Wald, Wechselbälger und Feenglanz durch das kollektive Gedächtnis der Metamenschheit klingen. Die Ebene des Hofes der Feen wurde getrennt, als die Magie verschwand. Und als das Erwachen kam, kehrte auch der Seelie-Hof zurück – die Nationen Tir Tairngire und Tir Na nOg legen davon Zeugnis ab. Vertieft man sich in ihre Gründung und Politik, so gibt es hinter den Kulissen zahlreiche Spuren, die zu den Seelie des Feenhofes führen ... und zu ihren dunklen Geschwistern, wie manche munkeln.

„Hof der Feen“ gibt es nur als Limitierte Edition, und eine solche weckt natürlich Interesse. Oftmals wird diese edel aufgelegt, und auch hier wird einiges geboten: Das ganze Buch wirkt wie vom Zauber der Feen berührt. Ein weicher, nachgiebiger und doch fester Einband, mit dem klaren Grün einer „Shadowrun“-Regelergänzung für die fünfte Edition – und doch anders, mit Spiel von Licht und Schatten, mit Ranken, die sich als Motiv durch das gesamte Buch ziehen. Ein unwirklich scheinendes Grün rahmt innen jede Seite ein, der ganze Aufbau wirkt leicht fremdartig. Alle Kapitel sind am Rande angezeigt, farbig unterlegt dabei dasjenige, in welchem der Leser sich befindet. Die Schriftarten sind klar und deutlich und wirken doch irgendwie andersartig – ein geschickter Einsatz kursiver Schrift verstärkt dies noch. Auch die Bilder, von denen viele neu für dieses Buch geschaffen wurden und einige wirklich alte Bekannte des „Shadowrun“-Universums sind (manches Bild entspricht im Zeichenstil gar der ersten Edition von „Earthdawn“!), vermitteln einen Eindruck der Anderswelt: Manchmal sehr dicht an der gewohnten 6. Welt, manchmal weit davon entfernt, und manchmal dazwischen, wie in einem Traum.

Auch ein so merkwürdiges Thema wie die Meta-Ebene der Feen und ihrer Herrscher lässt sich, als Buch geschrieben, am besten in Kapiteln unterteilen. Das erste davon, „Das unmögliche Tor“, bringt mit einer Kurzgeschichte, die direkt auf das „Tarot der Sechsten Welt“ anspielt, den Stein ins rollen und setzt den Ton für die Stimmung des Buches. Es ist die Geschichte des Hofes – oder zumindest ein paar ausgewählter Teile davon –, von dessen Einfluss auf die Sechste Welt und umgekehrt, von den Interessen der Megakonzerne an der Meta-Ebene der Feen und wie weit sie bereits gekommen sind, mit einigen interessanten Auslassungen. Denn das, was nicht gesagt wird, kann so wichtig sein wie das, was gesagt wird – auch dies zeigt sich immer wieder in diesem Buch.

Im zweiten Kapitel, „Der Seelie-Hof“, werden wichtige Ämter des Hofes und seine Funktionen beschrieben. Wer spricht wann mit wem und warum? Wie kann man jemanden kennenlernen? Wie kommt man an Informationen? Wie verläuft die Zeit am Hof, und wonach wird sie unterteilt? Wie sprechen Feen, und woran haben sie Interesse? Auch die höchsten Mitglieder des Hofes werden vorgestellt, mit teils merkwürdig intensiv wirkenden, teils fehlenden Beschreibungen (und kompletten Spielwerten).

Das dritte Kapitel, „Die Fraktionen des Hofes“, geht zunächst auf die Entstehung dieser Fraktionen und deren politisches Wirken ein, um danach zehn aktive Fraktionen näher vorzustellen. Entstehungsgeschichte, Organisation und Ziele, Erkennungsmerkmale und Vorgehen werden beschrieben, ebenso einige bekanntere Mitglieder. Die Fraktionen basieren dabei auf Karten des Tarots der Sechsten Welt: Die Aes Sidhe Banrigh, Der Drache, Der Eremit, Der Magier, Die Sonnenfinsternis und Der Gehängte werden, unter anderen, erwähnt – und dann gibt es noch eine Fraktion die nicht auf den Karten basiert, von der nicht jeder glaubt, das sie existiert, und für deren Existenz niemand den Beweis erbringen kann ... und doch verstummen die Gerüchte um sie einfach nicht.

Im vierten Kapitel geht es um „Der Hof selbst“. Ein Bauwerk wie dieses, so viel älter als die Erinnerung selbst Jahrtausende alter Wesen, geschaffen aus Macht und Magie, verbirgt einiges in seinem Inneren. Und ist erstaunlich wandlungsfähig: Wer in einem Raum einschläft, kann nie sicher sein, wohin die Zimmertür am nächsten Morgen führt. In manchem Ballsaal bebt nicht nur der Boden. Ein Speisesaal kann aus Platzgründen alle Seiten des Raumes für Tische nutzen, und es gibt einen kugelförmigen Raum, dessen einziger Eingang sich mit den Mondphasen weitet oder schließt – und das Licht in diesem Raum ist passend dazu so hell wie der Mond oder eben so finster. Und das sind nur ein paar der Orte, die in diesem Kapitel genannt werden. Auch wie man sich an diesem Hof rasch fortbewegen kann, wozu manche Orte dienen und wozu sie angeblich genutzt werden wird erwähnt – und etwas Besonderes für jeden Schatzjäger gibt es am Schluss des Kapitels.

Das fünfte Kapitel, „Die Geschöpfe des Hofes“, stellt einige der einheimischen Geister und Kreaturen der Meta-Ebene der Feen vor. Sehr vielfältige Wesen sind hier anzutrefffen, manche bezaubernd, manche tödlich, manche einfach nur sehr merkwürdig. Drei davon, Croki, Kappa und Morbi, sind mit ihren Beschreibungen nahezu identisch im „Critterkompendium“ der 5. Edition bereits als planare Reisende aufgeführt, allerdings natürlich mit anderem Kontext.

Im sechsten Kapitel geht es um „Die alltäglichen Sorgen“ in einem Feenhof voller mächtiger, langlebiger Kreaturen. Was hat es mit dem Phantom im Nebel auf dem Dach des Hofes auf sich, versucht es wirklich nur andere zu erschrecken? Oder sind einige merkwürdige Todesfälle auf das Wirken dieses ungreifbaren Geistes zurückzuführen? Wie konnte ein Mega-Konzern aus der mundanen Welt am Hof so weit Fuß fassen, das er anfängt, die Hofpolitik zu beeinflussen? Und, besonders interessant auch für jene, die den Hof der Feen nur am Rande in ihrer Spielwelt auftauchen lassen wollen, doch dem aktuellen Meta-Plot folgen: In welcher Beziehung steht das Tarot der Sechsten Welt mit den Fraktionen bei Hofe, die nach den Karten benannt sind?

Das siebte Kapitel handelt „Von Form und Funktion“. Darin geht es um die Begrüßung neuer Ankömmlinge der irdischen Meta-Ebene – also der üblichen Spielwelt – am Hof der Feen, wobei angenommen wird, dass es sich dabei um Shadowrunner handelt. Die Grundregeln des Überlebens am Hofe, Beispiele für das Verhalten ihrer Bewohner, mögliche Aufträge und Beispiele dafür werden sehr bunt ausgeschmückt. Doch was verspricht sich der Verfasser dieser Zeilen von dieser netten Geste? Nun, ein Gefallen wird am Hofe stets erwidert. Das empfiehlt sich zumindest.

Im achten Kapitel, „Das Spiel am Hof der Feen“, erfahren Spielleiter schließlich alles, was sie brauchen, um diese magische Spielwelt für ihre Gruppe zu verstehen und anzupassen, Hintergrundinformationen und Begriffserklärungen inklusive. Wie kann der veränderte Zeitfluss genutzt werden? Wie wirkt es sich aus, für oder gegen eine Fraktion zu arbeiten? Was passiert mit der ganzen Technik und den modernen Waffen? Und wie können sich Decker und Rigger in einer komplett magischen Welt einbringen? Ähnlich wie beim Tiefenhack in einen Host in „Datenpfade“, bei dem bewusst vorgeschlagen wird, Nicht-Decker mitzunehmen, deren reguläre Fähigkeiten dann innerhalb des Fundamentes eines Hosts angewendet werden können, werden im „Hof der Feen“ Lösungen angeboten, um technisch versierte Charakterkonzepte in dieser magischen Umgebung spielbar zu halten.

Der „Hof der Feen“ liefert also ein Rundum-Paket, um Spielleiter mit viel Hintergrundmaterial und Spieler mit stimmungsvollen Settings zu versehen. Wer eine fremde Spielwelt darstellen möchte, wer wirklich eine Meta-Ebene komplett bespielen will, die auch noch nachweislich Einfluss auf die Politik zumindest zweier Länder hat, kurz: Wer etwas wirklich anderes, Magisches an den Spieltisch für seine „Shadowrun“-Runde bringen möchte, ist mit diesem Buch gut beraten.

Kommen wir zu einigen kritischen Punkten. Die Sprunghaftigkeit und der hintergründige Stil, in dem die Informationen präsentiert werden, machen es etwas schwierig, gezielt Details aus dem Text herauszusuchen, auch beim erneuten Lesen. Im Gegensatz zum vertrauten Format der bisherigen Regelwerke und Quellenbücher der 5. Edition gibt es auch keine hilfreichen Datenblöcke und/oder Zusammenfassungen. Einige der ausgewählten Bilder passen bei aller Qualität nicht ganz zum jeweiligen Text (eine Szene wirkt beispielsweise eher wie aus einer Kneipe in Seattle, in einem anderen Bild passt die Haarfarbe einer Kreatur nicht zu ihrer Beschreibung). Hauptkritik für mich sind allerdings falsch gesetzte oder -geschriebene Wörter, die vor allem im ersten Kapitel den Lesefluss stören. Dies lässt zum Glück ab dem zweiten Kapitel wieder stark nach.

Allgemein kann die Kritik auf einem sehr geringen Niveau verbleiben und wird bei der Nutzung des Buches kaum ins Gewicht fallen. Die angesprochenen Punkte dienen (bis auf die Stolpersteine im ersten Kapitel) mehr der Vollständigkeit dieser Rezension, und beeinträchtigen das Buch im ganzen meiner Meinung nach nicht.

Fazit: Die Meta-Ebenen. Was bedeutet es wirklich, auf eine andere Ebene der Realität zu reisen – eine Realität, die sich teils sehr stark, teils nur wenig von unserer unterscheidet, aber in jedem Fall eben nicht unsere Welt ist? Der „Hof der Feen“ gibt hier eine intensive, starke Antwort. Wenn der Spielleiter das andersweltliche Element einführen will, wenn Inspiration für eine Macht außerhalb der Realität gesucht wird, die Einfluss auf diese nimmt, wenn ein magischer Charakter auf der Suche nach Macht und Wissen sich zu weit hinauswagt – dann kann und wird dieses Buch eine Tür sein, die zu tiefen Geheimnissen führt.

Hof der Feen
Quellenbuch
Jason M. Hardy, Cassandra Khaw, R.L. King, Monica Valentinelli u.a.
Pegasus Spiele 2017
ISBN: 978-3-95789-117-4
192 S., Hardcover, Deutsch
Preis: EUR 29,95

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