Buch der Verlorenen

Um den Beginn des Tarot-Zyklus würdig zu begehen, braucht es neben den Karten an sich das Wissen und die Werkzeuge, diese richtig einzusetzen. Doch wie auch immer „richtig“ definiert werden soll: Suche nach Macht, Suche nach Wissen, Suche nach Einfluß – welchen Weg werden die Runner einschlagen, wenn sie mit einer neuen Legende der Sechsten Welt in Berührung kommen? Werden sie selbst Teil der Geschichte, treten an die Öffentlichkeit und werden gesehen? Oder bleiben sie in den Schatten, verkaufen ihr Wissen einfach an den Meistbietenden und lassen die Karten nicht in ihre Nähe?

von Adaon

Im Jahr 2017 erschienen von Pegasus als „Tarot-Bundle“ ein Abenteuerband, ein Roman, ein Hintergrundbuch und eben ein Tarot-Deck mit 78 Karten. Natürlich sind diese Komponenten auch einzeln erhältlich. Das Tarot-Deck namens „Shadowrun-Tarot“ ist dabei das verbindende Element.

Mit dem Quellenbuch „Buch der Verlorenen“ werden nun Hintergründe dieses „Tarots der Sechsten Welt“ beleuchtet, die Einflüsse des Tarots als Ganzem und der Karten im Einzelnen auf die Welt und diejenigen, welche in Kontakt damit kommen. Die Macht, die in den Karten liegt, zieht natürlich auch diejenigen an, welche nach Abkürzungen streben, nach Einfluß und nach dem Wissen über die Zukunft. In der Matrix tauchen immer wieder Berichte über Karten auf, über Sichtungen, über Erlebnisse. Doch viele von jenen, die nach den Karten suchen, sind nicht, bereit ihr Wissen zu teilen – und möchten auch nicht, dass andere etwas über die Karten erfahren.

Wie immer ist der Quellenband größtenteils als Datensammlung, diesmal eben über das „Shadowrun-Tarot“, beim Runner-Knoten „Jackpoint“ aufgebaut. Wie bei der (Aus)Legung der Karten für eine Person wirkt allerdings das „Buch der Verlorenen“ diesmal persönlicher als für Quellenbücher üblich.

Die Kurzgeschichte, die das Buch einleitet, zeigt den plötzlichen Einfluß, den das Tarot auf ein Leben gewinnen kann. Das folgende Kapitel „Deckbau“ macht die Suche nach den Karten direkt zu einer persönlichen Angelegenheit für bestimmte Mitglieder des Jackpoint. In verschiedenen Abschnitten und mit verschiedenen Schwerpunkten stellt die vernetzte Schattengemeinde zusammen, was die Mitglieder zum Tarot wissen oder darüber gehört haben, wie es genutzt werden kann, und wie es seinerseits die Metamenschheit beeinflusst.

Im anschließenden Kapitel „Das Tarot und der Hof“ erfährt der Leser einiges über den Einfluss, den das Tarot auf den Seelie-Hof, der Sitz der Macht in der Metaebene der Feen hat – hier gibt es auch viele Hinweise auf das alternative Setting im Quellenband „Hof der Feen“.

In „Verwendung von Themen und Motiven“ weist ein Mitglied des Jackpoints auf die Gefahren einer voreiligen Interpretation der Karten hin sowie auf ein wiederkehrendes Motiv, das deutlichen Einfluss auf diejenigen nimmt, die sich mit dem Tarot befassen: den Wandernden Narren – nicht zu verwechseln mit der Karte des Bastards, der in „Shadowrun“ den Narren aus dem Rider-Waite-Tarot ersetzt.

In „Gegenstände und Objekte“ wird ein Vortrag eines der führenden Wahrsager der Welt vor Managern eines AAA-Konzerns wiedergegeben. Auf den Karten dargestellte, wiederkehrende Motive werden als Ganzes oder auf die jeweilige Karte bezogen interpretiert. Anschließend gibt es direkte Weissagungen über Kartenkombinationen, mit möglichen Interpretationen für den Spielleiter.

Im Kapitel „Leute“ geht es dann um die interessierten Parteien, die für Runner auf der Jagd nach den Karten – oder Informationen dazu – zu Informanten, Auftraggebern, Konkurrenten oder gar Feinden werden können. Dabei werden neue Gesichter ebenso vorgestellt, wie schon lange bekannte, mächtige Bedrohungen der sechsten Welt.

Mysteriös wird es danach im Kapitel „Taco Temple“. Diese Fast-Food-Kette kommt auf sieben der Karten vor. An sich nicht ungewöhnlich für eine so weit verbreitete Kette, die allgemein bekannt ist. Allerdings wurden die ersten beiden Filialen von Taco Temple erst vor drei Jahren errichtet. Heute sind es 12.000 Filialen. Auch noch nicht so unwahrscheinlich. Aber woher kommen dann die Erinnerungen der Betrachter, die zwanzig, dreißig Jahre oder mehr in ihre Kindheit zurückreichen, als sie schon begeistert Feuerball-Burritos bei Taco Temple essen konnten? Und auch das Tarot ist vor drei Jahren erstmals aufgetaucht.

Der Spaß für den Spielleiter geht im nächsten Kapitel „Codes und Rätsel“ so richtig los. Dass auf den Karten viele Details sind, fällt auf den ersten Blick auf – das sich manche Elemente oder auch die Gesichter von Personen darauf auf manchen Karten wiederholen, auf den zweiten. Daraus eine Geschichte zu spinnen, scheint dann nicht mehr weit hergeholt, und einige ziemlich fordernde Runs und Kampagnen werden bereits vorgestellt. Doch das ist nur der Anfang. Texte in Runen und Fremdsprachen, Symbole, die bei richtiger Zusammenstellung der Karten, Koordinaten einer weltweiten Radialkarte ergeben, Angaben zur Kraft eines Ereignisses am Rand der Karten verborgen – und es geht noch um Einiges weiter. In diesem Quellenband wird bereits viel verraten oder angedeutet, doch es soll in weiteren Publikationen noch vieles dazu kommen.

„Die Karten als Orakel“ beschreibt zunächst die Unterschiede der Kartenbilder zum Rider-Waite-Tarot, um danach – ähnlich dem Kapitel „Gegenstände und Objekte“ – auf die direkte oder symbolische Bedeutung einiger Abbildungen einzugehen.

Über die Mächte des Tarots wurde schon viel geschrieben und spekuliert, und im Kapitel „Macht der Karten“ geht es dann um die tatsächlichen Möglichkeiten, die der Besitz einer oder mehrer Karten eröffnet. Die Großen Arkana verleihen jeweils bestimmte Gaben und Segnungen, während ein Set der Kleinen Arkana auch einer Gruppe von Individuen zu gute kommen kann. Doch müssen die Karten nicht nur gesammelt werden, auch ein bestimmtes Ritual gehört dazu – das allerdings nicht von Magiebegabten durchgeführt werden muss, denn die Macht ruht in den Karten selbst. Dies macht die Suche nach den Karten natürlich noch interessanter für viele Parteien.

Im vorletzten Kapitel „Charakterfundgrube“ werden zahlreiche in den vorigen Kapiteln erwähnte NSC mit kompletten Werten, Fertigkeiten und Ausrüstung vorgestellt. Wie der Rollenspiel-Verlag Pinnacle Games einmal sagte: „Wenn es Werte hat, werden die Spieler es töten.“ Allerdings wird es ihnen bei einigen der hier vorgestellten NSC nicht gerade leichtfallen. Zusätzlich gibt es noch drei neue Schutzgeister.

Den Abschluss bildet das Kapitel „Tarot für Spielleiter“. Es geht um die Wahrnehmung des Tarots durch verschiedene Traditionen und danach die Möglichkeit der Erschaffung eines Runs mit zwei Legemustern, „Kurz und dreckig“ sowie „Reise des Schattenläufers“. Danach folgen Tabellen der Großen und Kleinen Arkana auf zwei Seiten, welche die einzelnen Karten jeweils einer Person/Gruppe, einem Auftrag, einem Ort und einer Situation zuordnen. Diese dienen der Übersicht zur Erschaffung eines schnellen Runs nach den vorigen Legemustern. Eine nette Alternative zum Zufalls-Run-Generator im Grundregelwerk, welche stimmungsvoll etwa auf einer Convention zum Einsatz kommen kann.

Mit gerade einmal 143 Seiten ist das „Buch der Verlorenen“ das Leichtgewicht unter den bisherigen Quellenbüchern. „Datapuls ADL“, der bis dato schlankste Band in grün, hatte immerhin 33 Seiten mehr – und „State of the Art ADL“ brachte es auch noch auf 159 Seiten. Im Vergleich zum Inhalt muss sich also die Frage gestellt werden, ob dieser Band knapp zwanzig Euro wert ist. Die Antwort wird eindeutig „Ja“ lauten – wenn der Käufer Interesse daran hat, das „Shadowrun-Tarot“ am Spieltisch einzusetzen oder sich aus anderen Gründen mit dem zugehörigen Metaplot auseinander setzen möchte. Mag jemand das Tarot aus dem einen oder anderen Grund nicht am Spieltisch sehen, wird auch das „Buch der Verlorenen“ kein Interesse wecken.

Warum sollte jemand so empfinden? Nun, es steht fest, dass mit dem „Schadowrun-Tarot“ eine neue mystische Macht Einzug in den Hintergrund von „Schadowrun“ hält. Das „Buch der Verlorenen“ und der ganze Tarot-Zyklus rücken eben die Verschmelzung von realer Welt, den Einfluss endlos erscheinender technischer Möglichkeiten und die alles durchziehende Macht der Magie fest in den Mittelpunkt von „Shadowrun“. Mir selbst gefällt diese Mischung – für mich ist es das, was diese Spielwelt ausmacht. Doch für andere muss das nicht gelten. Dies mag zunächst komisch klingen – Drachen, Geister und Magie sind ja fester Bestandteil der Welt – doch geht es mir um jene Spieler, die den Cyberpunk-Charakter und die Technik im Vordergrund sehen wollen und die Magie mehr als Randerscheinung betrachten. Diese sind mit einem Metaplot, der so erklärt mystisch ist und so unerklärlichen, mächtigen Einfluss auf „ihre“ Spielwelt haben kann, vielleicht ähnlich wie beim „Hof der Feen“ gut beraten, genau darüber nachzudenken, ob sie diesen am Spieltisch nutzen wollen.

Fazit: Mit dem „Buch der Verlorenen“ liegt der ultimative Quellenband zum „Shadowrun-Tarot“ vor – und umgekehrt ist das Tarot für den Einsatz am Spieltisch ohne diesen Quellenband nur eine bunte, wenn auch stimmungsvolle, Sammlung von Karten. Das Tarot scheint das „nächste große Ding“ in der laufenden Geschichte der Welt von „Shadowrun“ zu werden, und wie immer gilt: Sich daran zu beteiligen, ist möglich, jedoch nicht verpflichtend. Die Auswirkungen werden jedoch in der Spielwelt und weiteren Publikationen spürbar werden. Wer sich darauf einlässt, stellt fest, dass diese Karten deutlich mehr Tiefe und Rätsel aufweisen sowie die Aufmerksamkeit von deutlich mehr interessierten Parteien auf sich ziehen, als man gedacht hätte. Macht und Wissen können errungen werden, doch auch große Gefahren entfesselt. Ob während eines Auftrags im Hintergrund oder persönliches Ziel so manchen Runners – die Karten werden großen Einfluss auf ihr Leben haben.

Buch der Verlorenen
Quellenband
Lazarus Chernik, Jason M. Hardy, Drew Mierzejewski, u.a.
Pegasus Spiele 2017
ISBN: 978-3-95789-112-9
143 S., Hardcover, Deutsch
Preis: EUR 19,95

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