Im Herz der Dunkelheit

Angst frisst die Seele auf. Soweit das Sprichwort. Wir wissen alle, dass Angst auch helfen kann, uns vor Dummheiten bewahrt, uns unsere Grenzen aufzeigt. Doch manchmal ist die Angst auch ein Werkzeug von jemandem oder von etwas ... anderem. Etwas, das dich vor Angst lähmt, während es deine Seele frisst und deinen Körper für die Teufelsratten in einer dunklen Gasse liegen lässt.

von Adaon

Die Dunkelheit verdichtet sich. Da draußen gibt es Monster und nicht alle sind sie in menschlicher Gestalt. Sie fressen Körper, Geister, Seelen. Sie wollen Macht. Sie scheinen überall zu sein, wo sich auch Shadowrunner herumdrücken: an den Rändern der Gesellschaft, in den Schatten der Städte, verborgen vor dem Licht und den Augen der Massen.

„Im Herz der Dunkelheit“ beleuchtet, was die Schattengemeinde um den Matrix-Knoten JackPoint über verschiedene Gefahren für die ganze Welt weiß, die ihre Pläne umsetzen, egal wieviel und was es kostet: Insektengeister, Vampire, Monster aus den Untiefen der Matrix, eine weltumspannende magische Verschwörung, Geister aus anderen Ebenen, die Leichen als Gefäß benötigen und gern ein paar davon auf Vorrat lagern. All der Schrecken, dem sich kein Einzelner entgegenstellen kann und der ganze Ortschaften verschlingt, wenn gerade niemand hinsieht.

Eine Gefahr mag seit Langem bekannt und dennoch nicht auszurotten sein. Eine Erinnerung daran liefert das erste Kapitel, „Das Herz des Schwarms“. Die Insektengeister, fremdartige Wesen, die zur Manifestation auf unserer Ebene einen lebenden Körper brauchen, mit dem sie verschmelzen können, sind seit Jahrzehnten bekannt. Ihr Hunger ist groß, der Schwarm soll wachsen. Diese Bedrohung hat bereits die Stadt Chicago gekostet – als Reaktion auf den Befall durch Insektengeister wurde sie mit Atombomben und magisch aktiven Biowaffen vom eigenen Staat angegriffen.

Man sollte meinen, dass sich nach diesen Erfahrungen jeder so weit wie nur möglich von Geistern fernhält, die Metamenschen als Nahrung begreifen, aber immer wieder verfällt ein Magier oder Schamane einem summenden Flüstern, das nur er hören kann ... und die Hinweise mehren sich, dass selbst ein bestimmter Megakonzern bis tief ins Innere zerfressen ist. Wie die Gänge eines Ameisenhügels ziehen sich die Hinweise darauf durch den äußerlich intakten Berg aus der üblichen Korruption und Ausbeutung, und noch während neue Insektengeisterarten bekannt werden, könnte einer der Großen Zehn plötzlich auseinanderfallen und einen Schwarm sichtbar werden lassen, der sich in alle Richtungen ausbreitet.

Länger bekannt sind auch die Shedim aus dem Kapitel „Gestrandete Geister“, eine Art Schattengeister, die Leichen besetzen, um in unserer Ebene zu existieren. Der Spalt zu ihrer Heimatebene ist verschlossen, neue Shedim gibt es nur wenige und selten. Doch das heißt nur, dass die Shedim, die bereits hier sind, sich angepasst haben, frische Leichen und deren Erinnerungen nutzen, um Zugriff auf die Matrix und Artefakte zu erhalten, und neue Wege entwickelt haben, um sich besser in unserer Welt zu halten. Einer davon ist, einen Vorrat von Leichen in der Nähe zu haben, um bei Bedarf rasch wechseln zu können, anstatt verdrängt zu werden.

Doch auch auf unserer eigenen Ebene gibt es jene, die im Dunklen wandeln. Vorgestellt im Kapitel „Schwärzer als die Nacht“ wird die „Schwarze Loge“, eine Gesellschaft von Magiewirkern. Sie erstreckt sich gerüchteweise durch alle Gesellschaftsschichten und in die Führungsebenen jedes Konzerns, jeder mächtigen Gruppierung, jeden Landes. Sie stehen dabei nicht selbst an der Spitze, sondern direkt dahinter. Wenn sich die Zeiten ändern, alte Strukturen untergehen, stehen sie schon bereit, die neuen Machthaber zu unterstützen. Es soll sie bereits seit Jahrunderten geben. Oder seit Jahrtausenden. Sie sollen Rituale kennen, die selbst vor dem Erwachen funktionierten. Mit steigender Macht sollen ihre Mitglieder ihren Namen wechseln, ihr Lebensumfeld, um alle Brücken abzureißen und verborgen zu halten, dass sie erwacht sind. Wie geschrieben – es gibt viele Gerüchte; doch versucht man diesen zu folgen, ein Bild zu erkennen, Mitglieder zu identifizieren, so zeigen sich immer wieder die selben Spuren, ehe diese Suche plötzlich an einem offenen Grab endet. Wie weit reicht diese Gesellschaft wirklich? Wieviel Macht kann sie in Bewegung setzen? Und noch wichtiger: Was ist ihr Ziel?

Vor wenigen Jahren erst wurde eine neue Gefahr bekannt: „Monaden und KFS“. In diesem Kapitel geht es um durch Naniten übertragene, künstliche Intelligenzen, die auf der Flucht vor Experimenten an ihnen, die in der Matrix durchgeführt wurden, biologische Körper übernahmen. Wie konnte man sich schützen? Wenn es einen erwischt hatte, erstmal gar nicht. Die immer beliebter werdende Nanotechnologie, die Cyberware endgültig als Sieger über die Bioware erscheinen ließ, wurde mit einem Mal zur tödlichen Gefahr. Schließlich ging in einem großen Unfall ganz Boston verloren, die Einwohner wurden zum größten Teil überschrieben und die KFS-Krise löste weltweit Panik aus. Nachdem die Hintergründe bekannt wurden, bot Evo den Monaden genannten neuen Lebensformen als erstes eine sichere Heimat – gegen Arbeitsleistung, aber damit auch die Chance, die Erde in Richtung Mars zu verlassen. Das Generationenschiff „Deep Space Exploration and Colonization I“ startete voller Monaden nun im Dezember 2079, um unser Sonnensystem hinter sich zu lassen. Doch die Katastrophe, die in Boston tausende Leben forderte, hat Nachwirkungen. NeoNET bekam die Hauptlast der Schuld zugeschoben und ist zerbrochen. Die Schakale und Geier kreisen um die Überreste des Konzerns. Evo und Aztechnology werden wohl noch angeklagt. Und immer noch leben tausende KIs in geraubten Körpern, noch immer wollen Freunde und Angehörige ihre verlorenen Gefährten zurück haben. Und immer noch besteht die Gefahr einer Ansteckung durch eine Dose Naniten-Spray, die irgendwo in einem Lager in der Ecke steht.

Auch in anderen Ebenen geschehen merkwürdige Dinge, nachlesbar in „Die Verborgene Fraktion“. Am Hof der Feen wurde eine Anklage wegen Mordes erhoben; eigentlich mochte niemand den Ermordeten. Doch hat der Angeklagte auch tatsächlich damit zu tun? Was verspricht sich der Ankläger vom Prozess? Welche Fraktionen werden wie reagieren, welche Ziele verfolgen sie? Vordergründig scheint die Fraktion der Aes Sidhe Banrigh das Ziel zu verfolgen, die Existenz der Fraktion der Schatten zu beweisen. Wenn es sie tatsächlich gibt, wer gehört ihr dann an? Oder geht es doch um etwas anderes?

Um nach diesem ruhiger wirkenden Kapitel wieder tief in den Wahnsinn abzugleiten, geht es in „Die Anhänger der Alten Götter“ zunächst um Aktivitäten des Ordo Maximus. Man sollte annehmen, das eine Gruppe von größenwahnsinnigen Vampiren auf der Suche nach magischer Macht schon an und für sich genug Probleme macht. Und die Schrecken und kranken Praktiken, über die in diesem Kapitel berichtet werden und die vom Ordo gefunden, studiert und/oder hervorgerufen werden, können einem wirklich Übelkeit verursachen. Allerdings gibt es auch noch Hinweise auf Mächte von außerhalb der Realität, die an Einfluss gewinnen ... Abgeschlossen wird das Kapitel durch eine laufende Ermittlung von Knight Errant in Seattle, die deutlich mehr Fragen aufwirft als sie beantwortet und eine Handvoll wirklich intensiver (und tödlicher) Abenteuerideen mitliefert.

Damit auch die Gefahren der Technik nicht zu kurz kommen, werden in „Die Tiefen des Fundaments“ Begegnungen mit Bewohnern eben jener Daten-Grundlage der Matrix vorgestellt, aus denen die Konzerne ihre Hosts wachsen lassen. Wer seinen Weg hierhin findet, ist per definition ein fähiger Hacker und hat einiges gesehen. Doch diese Wesen, deren Verhalten fremdartig erscheint und die von „unten“ beziehungsweise „innen“ heraus Hosts übernehmen und äußerst aggressiv auf KIs und Technomancer reagieren, sind noch völlig unbekannt. Gleichzeitig scheint es eine neue Methode zu geben, im Fundament und abseits der Resonanzräume an eigentlich gelöschte oder verlorene Daten zu gelangen: Ob Hacker oder Technomancer, wenn Daten gleich welcher Art gesucht werden, kann man sie hier finden. Nur hat die Sache einen Preis. Und der ist hoch.

Im Kapitel „Die Ghulkönigin und ihr Volk“ geht es natürlich um Asamando, die Nation für Infizierte. Doch zuerst werden einige Organisationen von Infizierten und für Infizierte vorgestellt und es wird beschrieben, wie verschiedene Länder und Konzerne auf sie reagieren oder mit ihnen interagieren. Der allseits beliebte Organ- und Leichenhändler Tamanous wird hier natürlich ausführlich erwähnt. Danach gibt es einen Reisebericht über einen kurzen Besuch in Asamando, der die Angst und das Grauen hinter der normal scheinenden Fassade immer wieder kurz ausleuchtet. Ein längerer Artikel über das Land schließt sich an. Ein sicherer Hafen für Infizierte, ein Ort, damit sie in Frieden leben können: Das klingt zwar recht positiv, geht aber nicht auf das Problem der Nahrungsbeschaffung für fast eine Million Infizierte ein, die nur das Fleisch frisch verstorbener Metamenschen verzehren können, um selbst zu überleben. Und die anderen Arten von Infizierten, besonders Vampire, müssen regelmäßig die Lebenskraft, die Essenz, von lebenden Metamenschen aufnehmen. Daher wird die Nahrungsbeschaffung und -haltung in Asamando hier natürlich auch behandelt. Wem dann noch nicht schlecht ist oder wer sogar einen Infizierten spielen möchte (wie auch als Option im Erweiterungsband „Schattenläufer“ vorgestellt), der erhält noch einen Schwung neuer Kräfte, etwas Magie und über ein halbes Dutzend infizierter spielfertiger Charaktere geliefert.

Anschließend werden in „Ungezähmte Metaebenen“ noch einige potenzielle Reiseziele abseits unserer Realität betrachtet. Ob Tod durch giftige Pflanzen in einer Ebene der Dunkelheit, durch schneidenden Kristall, der überall und schnell wächst (ja, auch an Besuchern), ob Tod in einer Welt, in der es nur Raubtiere gibt, oder in einem Reich, in dem sich Besucher hinlegen und nie wieder gehen (oder essen, oder am Leben bleiben) wollen: Wenn der Auftrag eines Megakonzerns auf der Suche nach auszubeutenden Ressourcen, die Neugier oder nur der Zufall dorthin führen, sollte die Reisegruppe sehr gut vorbereitet sein, und nicht lange vor Ort bleiben.

Das letzte Kapitel, exlusiv für den deutschprachigen Markt, spielt in der „ADL: Unter der Oberfläche“. All das weltweite Grauen und die Abgründe gibt es natürlich auch direkt vor der Haustür! Insektengeister (und wie sie sich in der SOX ausbreiten), die Schwarze Loge (und ihre Verbindungen zu den Freimaurern in Karlsruhe), Infizierte (und die Politik in Hannover die sich gerade um sie dreht), Kulte um alte Götter (und ihre durchgeknallten Anhänger in Hamburg) und zum Abschluss ein genauer Blick auf eine renomierte Anwaltskanzlei aus Frankfurt. Ja, der letzte Teil steht dort tatsächlich so. Ratet mal, wer dort alles ein und aus geht.

Beunruhigend sind auch die Kurzgeschichten, wenn es auch nur wenige sind. Angst, verzweifelte Kämpfe und ein Abgleiten in den Wahnsinn werden geboten, aber auch Mut und Opferbereitschaft. Gruselig und passend wirken auch die eingeschobenen kurzen Texte, und wie immer gibt es Kommentare der Matrix-Nutzer, die diese Informationen durchgehen und manche Veränderungen in der Sechsten Welt greifbar werden lassen. Neue Bilder gibt es nur wenige, die meisten sind bereits altbekannt, doch die Qualität ist gewohnt hoch. Der Preis ist wie mittlerweile bei „Shadowrun“-Produkten erwartet ebenfalls gewohnt günstig. Negativ fallen lediglich ein paar kleinere Fehler in den Texten zu Beginn auf, und eine Diskrepanz durch das Vertauschen zweier Textstellen. Nichts Großes also, das vom Kauf abhält.

Fazit: Das Setting von „Shadowrun“ war schon immer ein wenig anders. Technik, die den Alltag unterstützte, die alles vernetzte, bis hin zum Weltraum reichte und dort Raumstationen und Marskolonien ermöglichte; Magie als seltene Gabe, zum Werfen von Blitzen und Heilen von Wunden, bis hin zum Auftauchen von fremden, magisch veränderten Gebieten und den Schrecken der Insektengeister und der Infizierten. Doch in ihrem Streben nach immer mehr Macht, dem Überschreiten des Möglichen, schuf die Metamenschheit in der Matrix KIs und diese übernahmen durch Naniten lebende Körper, überschrieben den Verstand. Wesenheiten von anderen Metaebenen und aus tiefen Abgründen wurden auf das steigende Magieniveau der Welt aufmerksam – oder durch Suchende darauf aufmerksam gemacht – und brachten ihre eigenen Schrecken mit, in Form wandelnder Leichname und verdrehten Verstandes, der nach Alten Göttern ruft. „Im Herz der Dunkelheit“ fügt der Welt von „Shadowrun“ eine weitere Komponente hinzu: den Horror. Abgründe von Geist und Willen, Technik und Magie. Wer seine Spielgruppe mit hoffnungslosem Schrecken konfrontieren will oder eine Kampagne um eine Bedrohung aufbauen mag, die so unfassbar ist, dass sie im Alltag praktisch niemandem bewusst wird, der nicht damit konfrontiert wurde, wird hier fündig werden.

Im Herz der Dunkelheit
Quellenband
Brooke Chang, Jason M. Hardy, Amy Veeres, Torben Föhrder, Tobias Hamelmann u.a.
Pegasus Spiele 2018
ISBN: 978-3-95789-174-7
202 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 19,95

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