Harleen

Die Psychologin Dr. Harleen Frances Quinzel hat einen Traum. Sie möchte eine Methode entwickeln, mit der sich der Verlust von Empathie frühzeitig erkennen lässt. Straftaten, die in vielen Fällen auf mangelnde Empathie zurückgehen, könnten so verhindert werden und die Kriminalität in Gotham City sinken. Dr. Quinzel begibt sich dafür in die Heilanstalt Arkham, um mit Menschen zu sprechen, die ihre Kontrolle verloren haben. Vor Ort ziehen die Erkenntnisse Dr. Quinzel beinahe den Boden unter den Füßen weg. Ist sie zu weit gegangen? Was ist richtig – und was falsch? Der Abgrund wartet schon …

von Daniel Pabst

„Harleen“ ist der bei Panini Comics erschienene Sammelband der drei Einzelbände „Harleen 1-3“ von 2019. Autor und Zeichner ist Stjepan Sejic. Die deutsche Übersetzung stammt von Josef Rother. Die insgesamt 212 Seiten in großem Format (21,3 x 27,4 cm) enthalten zusätzlich zur Geschichte vier Variant-Cover, die drei Cover der Einzelausgaben von „Harleen“ sowie 13 Seiten, auf denen der Schaffensprozess des Comics in Szene gesetzt wurde. Dieser Einblick in die Kreativarbeit und in die Entwicklung rundet das Leseerlebnis nicht nur hervorragend ab, sondern bestätigt den – schon nach den ersten Seiten – entstandenen Eindruck, etwas sehr Besonderes zu lesen. Warum das so ist, und der Comic ausdrücklich zu empfehlen ist? Die Antwort gibt es hier:

Doch vorab kurz zur Frage, die sich vielleicht bei dem ein oder der anderen gestellt hat: „Ist das hier eigentlich eine Harley-Quinn-Story, oder was soll das Ganze werden?“ Die Antwort lautet: Ja und nein. Denn „Harleen“ ist unter dem Black Label erschienen, was bedeutet, dass die Künstler und Künstlerinnen große Freiheiten genießen und nicht an den momentanen Canon gebunden sind. So macht sich Stjepan Sejic daran, eine der populärsten weiblichen Comic-Figuren aller Zeiten in eigener Version zu präsentieren. Dr. Harleen Frances Quinzel, besser bekannt als Harley Quinn (ein Wortspiel auf Harlekin), erleben wir daher in einer Art und Weise, die Bekanntes und jede Menge Unbekanntes zu bieten hat. Ach ja, und nicht verheimlicht werden darf natürlich gleich zu Beginn, dass in diesem Comic auch eine Kult-Fledermaus und ein Kult-Bösewicht auftauchen werden …

In der von Sejic erzählten Geschichte sehen wir eine brillante Psychologin, die sich für ein besseres Leben in Gotham einsetzen möchte. Doch ihre Genialität und auch ihre Eigenart lassen sie schnell zur Außenseiterin werden. Dabei könnte ihre Methode im Erfolgsfall Menschen davor bewahren, Opfer von Vergehen oder Verbrechen zu werden, und gleichzeitig Menschen daran hindern, selbst Straftaten zu begehen. Ist das nicht eine vorbildliche Idee? Mit der finanziellen Unterstützung der Wayne-Stiftung erhält sie sodann Zugang zu Arkham Asylum, um mit ihren Befragungen zu beginnen und herauszufinden, warum manche Menschen ihre Emotionen mit der Zeit verlieren. Das ist ein Dorn im Auge des Staatsanwalts und Bewerbers auf das Bürgermeisteramt Harvey Dent. Er ist vielmehr der Ansicht, dass sich durch Dr. Quinzels Studien bald jeder Angeklagte und jede Angeklagte vor Gericht auf den Verlust der Empathie-Fähigkeit berufen wird, um der Haft zu entgehen. Diese Verbrecher und Verbrecherinnen hätten alle „zwei Gesichter“, so Dent. Außerdem sei eine Resozialisierung dieser Menschen der Bevölkerung von Gotham nie und nimmer zuzumuten, meint der Staatsanwalt zynisch.

Dr. Quinzel lässt das kalt. Sie wird sich so schnell nicht von ihrem Traum verabschieden. Fest entschlossen will sie die Strafverfolgung zu einer differenzierteren Angelegenheit werden lassen. Nach dem Gespräch mit Dent, kehrt sie nach Arkham zurück und verhört dort Victor Zsasz, Poison Ivy, den Riddler und Killer Croc weiter. Das kostet sie ihre ganze Zeit und auch Kraft. Dennoch kann sie nicht das finden, wonach sie auf der Suche ist. „An welchem Punkt also setzt die Degeneration der Empathie ein?“, fragt sie sich immer wieder. Dann beschließt sie, sich dem Menschen zu widmen, vor dem sie sich am meisten fürchtet und der ihr in Albträumen begegnet ist. Zeitgleich mit ihr, ist auch dieser in Arkham angetroffen. Sie kam freiwillig und ihre strahlende Zukunft als Star-Psychologin vor sich sehend an. Er kam in eine orangene Zwangsjacke gezurrt und bewacht von drei schwerbewaffneten Sicherheitsbeamten dort an. Wiedersehen mit „Mr. Jay!“ Durch eine Glasscheibe getrennt, sieht sie nun den kartenlegenden, grünhaarigen, grinsenden und zu Scherzen aufgelegten Mann.

Dr. Harleen Frances Quinzel und der Joker – getrennt nur durch eine Glasscheibe! Es dauert nicht lange, und der Joker sitzt Dr. Quinzel gegenüber – ohne Glasscheibe. Ist der Joker das richtige „Versuchsobjekt“ für sie? Aus den uns begleitenden dunkelroten Rechtecken, die den Comic von Beginn bis zum Ende hin durchziehen, lässt sich vieles erahnen. Da erzählt uns Dr. Quinzel von einem Traum: „Heute ist sein Gesicht nicht monströs. Er lächelt… und ich mache einen Fehler… Ich lächle zurück. (…) Und das Mädchen gibt der Bestie ihre Menschlichkeit zurück… und die Bestie liebt das Mädchen… Aber das ist nicht meine Story. Meine Story endet ganz anders.“ Blättert man diese Seite des Comics um, so sieht man zwei Verliebte in Ganzkörperaufnahme. Vielleicht sind es diese Vorausdeutungen („Foreshadowing“), die aus den zu lesenden Worten von Dr. Quinzel aufkeimen; die dem Comic einen solch tiefen und emotionalen Ton geben. Vielleicht ist es das Motiv aus Geschichten wie „Das Schöne und das Biest“ oder „Das Schweigen der Lämmer“, das mit psychologischen Fragen, der Kriminalistik und der Frage nach dem Sinn von Strafe kombiniert wurde. Auf alle Fälle zieht dieser Comic einen in den Bann! Das ist alles sehr modern, faszinierend und absolut klasse gezeichnet worden.    

Die so umfassende Charakterentwicklung der Dr. Quinzel gelingt Stjepan Sejic möglicherweise auch deswegen so gut, da die Figur der Harley Quinn – anders als Größen wie Batman, Superman oder Wonder Woman – nicht aus dem goldenen Zeitalter der Comics stammt. Sie erklomm erst 1992 das Rampenlicht; das Jahr, in dem die Figur für die Batmans Zeichentrickserie geschaffen wurde. Und das auch nur für eine Folge! Danach aber konnten Fans und Creator nicht genug von der verrückten Blondine bekommen. Die Grundlage für „Harleen“ von Stjepan Sejic bildet die „Origin Story“ von Harley Quinn namens: „The Batman Adventures: Mad Love“ von Paul Dini und Bruce Timm vom Dezember 1993. Mit den „Suicide Squad“-Filmen und „Birds of Prey“ durfte sie, verkörpert von Margot Robbie, in den letzten Jahren drei Mal so richtig auftreten und die Hauptrolle spielen. Endet die Amour fou in „Harleen“ am Ende so wie bei Jean-Luc Godards „Außer Atem“ (1960)?

Bleibt abschließend eigentlich nur noch mitzuteilen, dass einen durch die Zeichnungen und die Texte von Stjepan Sejic (bekannt auch für die Comic-Reihe „Sonnenstein“) die Gedanken, Gefühle, Traumata und Träume der Dr. Quinzel sehr geballt treffen werden. Nie hat man das Gefühl, dass das Erzähltempo zu schnell oder zu langsam ist. Wäre dieser Comic ein Film, dann wäre er der psychologisch-fesselndste und zugleich beste unter den bisherigen Harley-Quinn-Filmen. Mitunter fällt es dabei schwer, die Grenze zwischen „Gut“ und „Böse“ zu ziehen – auch wenn es für die Akteure und Akteurinnen natürlich immer einen „Point of Return“ gegeben hätte! So vielschichtig wie das Make-up von Harley Quinn ist dieser Comic – und bietet die großartige Gelegenheit, sich selbst zu fragen, wie sehr man in manchen Bereichen einem Schwarz-Weiß-Denken verfallen ist. Hut ab!

Leseprobe

Fazit: Wer die Figur der Harley Quinn anderswo kennengelernt hat, der mag sich von Beginn an fragen, ob es dieses Werk von Stjepan Sejic gebraucht hätte? Die Antwort darauf ist so simpel wie kurz: Ja! Denn selten hat man einen Comic, der so tief in das Innenleben einer Figur eintaucht und das Gefühl entstehen lässt, in dem Comic erzähle eine reale Person aus ihrem Leben und davon, was ihr passiert ist. Dass dann noch gesellschaftliche Themen rund um die Fragen: „Was nützt Strafe?“, „Wie reduziert man Straftaten?“ und „Wie behandelt man Straftäter und Straftäterinnen?“ in diesem Comic auf der fiktiven Anklagebank sitzen, ist schlicht genial. Möglicherweise ist „Harleen“ der aktuell beste Comic aus der Welt von Gotham City!

Harleen
Comic
Stjepan Sejic
Panini Comics 2022
ISBN: 978-3-7416-3095-8
212 S., Softcover, deutsch
Preis: EUR 28,00

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