Gruselkabinett 128: Der Streckenwärter

Wenn man an den britischen Autor Charles Dickens denkt, kommen einem vor allem seine sozialkritischen Gesellschaftsbilder der viktorianischen Zeit in den Sinn, „Oliver Twist“ beispielsweise. Ein wirklicher Gruselautor war er nicht. Und so hat es auch bis Ausgabe 128 des „Gruselkabinetts“ gedauert, bis eine Schauergeschichte von ihm vertont wurde. „Der Streckenwärter“ ist ein unheimliches Kammerspiel mit – erneut – sozialkritischem Unterton.

von Frank Stein

Im Jahr 1861 macht ein namenloser Erzähler Urlaub und trifft auf einer seiner Wanderungen am späten Abend einen ebenfalls namenlosen Streckenwärter, der einen tief zwischen zwei Hängen und unweit eines Tunnels liegenden Gleisabschnitt bewacht. Als der Reisende diesen anruft und sich später zu ihm gesellt, benimmt sich der Wärter höchst eigenartig, geradezu verängstigt. In zwei nächtlichen Gesprächen erfährt der Erzähler von unheimlichen Begebenheiten, die sich unmittelbar um das einsame, finstere Häuschen des Streckenwärters und um ein rotes Signallicht ereignen. Ist es Geisterspuk? Oder gleitet der alte Wärter, der seit Jahren allein im Zwielicht des engen Tals lebt, nie viel Schlaf bekommt und gleichzeitig eine riesige Verantwortung schultern muss, langsam in den Wahnsinn ab?

„Der Streckenwärter“ (englisch „The Signal-Man“) wurde erstmals 1966 in der Weihnachtsedition des britischen Literaturmagazins „All the Year Round“ publiziert, eines wöchentlichen viktorianischen Periodikums, das von Dickens selbst gegründet und zwischen 1859 und 1895 herausgegeben worden war. Die Kurzgeschichte soll von einem Eisenbahnunglück bei Staplehurst im Sommer 1865 inspiriert worden sein, in das Dickens selbst verwickelt war, und verarbeitet unter anderem den Zugzusammenstoß am Clayton-Tunnel im August 1861, das zu diesem Zeitpunkt schwerste Zugunglück in der britischen Geschichte. (Passend dazu zeigt das Cover des Hörspiels eine wundervoll schaurige Abbildung eben jenes Tunneleingangs, aus dem ein wahrer Höllenzug herausfährt. Hier leistet Illustrator Ertugrul Edirne wieder einmal großartige Arbeit!)

Das mit 44 Minuten recht kurze Hörspiel erweist sich als atmosphärisches Kammerspiel. Von unheilvoll dräuender Musik und dezenten Toneffekten untermalt, stemmen Matthias Lühn als Reisender und Bodo Primus als Streckenwärter praktisch die ganze Geschichte im Alleingang. Gerade Bodo Primus vermag es dabei trefflich, die Seelenqual des Streckenwärters zu vermitteln, dessen Leben schon früh gescheitert ist und der, trotz gegenteiliger Behauptungen, nicht wirklich glücklich in dem dunklen, nebligen Loch zu sein scheint, in dem er von Berufswegen sein Dasein fristen muss. Ob allerdings nur sein krankhaft überreizter Geist für die spukhaften Erscheinungen verantwortlich ist, die ihn immer wieder vor drohendem Unheil warnen wollen, oder ob wahrlich das Übernatürliche im Spiel ist, will Dickens und damit auch das Hörspiel nicht endgültig klären. Das sorgt für ein nagendes Gefühl des Unbehagens und Grusels, wenngleich insgesamt nicht sehr viel passiert.

Ein Wort noch zum Silberling selbst. Ich habe die CD sowohl in einen CD-Spieler als auch in einen Computer mit einem käuflich erworbenen Audioplayer eingelegt, und es war mir nicht möglich, sie ohne kurzen Pausesprung zwischen den Tracks abzuspielen. Bei dem CD-Spieler war es besonders schlimm, was sich angesichts von mehr als 30 Tracks als recht störend erwies. Erst der VLC Player im Computer vermochte die CD in einem Durchlauf abzuspielen, sodass man nicht ständig aus der Story gerissen wurde.

Fazit: Schauerliche Unterhaltung bietet „Der Streckenwärter“, und dazu noch, clever verpackt, eine Kritik am harten, entbehrungsreichen Leben der Streckenwärter im viktorianischen England. Die Geschichte mag kurz sein und eher milden Grusel bieten, aber die Sprecher holen alles heraus, was machbar ist. Auch in Sachen Musik-, Ton- und visueller Gestaltung bietet Titania Medien einmal mehr ein gelungenes Produkt. Kein Favorit für mich in der großen Reihe des „Gruselkabinetts“, aber gehobenes Mittelfeld.

Gruselkabinett 128: Der Streckenwärter
Hörspiel nach der Erzählung von Charles Dickens
Marc Gruppe
Titania Medien 2017
ISBN: 978-3-7857-5560-9
1 CD, ca. 44 min., deutsch
Preis: EUR 8,99

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