Die Adlerreiter und das Horn der Rohira

15 Tage bleiben den Geschwistern Talyn und Salla mit ihren Freunden, um einen Krieg zu verhindern. Ihre Aufgabe ist eigentlich unmöglich: Sie müssen an einen Ort reisen, den sie nicht kennen, und etwas finden, was es vielleicht nicht mehr gibt. Auch wenn das Vorhaben unter den Voraussetzungen einer Odyssee gleicht, brechen die Freunde wild entschlossen auf den Rücken ihrer Adler zu ihrer Reise durch das Wolkenmeer auf.

von Oli Clemens

In Dûhn, einer kleinen Inselstadt im Wolkenmeer, herrscht Aufregung. Zuerst stürzen sich fliegende Tentakelwale scheinbar aus dem Nichts auf die Kornfelder der Stadt und drohen die komplette Ernte zu zerstören. Nur in einer gemeinsamen Kraftanstrengung der Bauern und der Stadtgarde können diese sogenannten Gamaasi (oder Bala, je nach Sprache) vertrieben werden. Die Freude darüber währt jedoch nur kurz, denn schon tauchen die Vorlakk, ein stolzes Kriegervolk und die Besitzer der fresslustigen Tiere, unerwartet am Horizont auf. Die nun in alle Himmelsrichtungen verstreuten Gamaasi/Bala müssen wiedergefunden werden, sonst drohen die Vorlakk die Stadt Dûhn anzugreifen. Die Vorzeichen stehen auf einen ebenso unvermeidbaren wi sinnlosen Krieg.

Wenn Erwachsene in der Konfliktbewältigung versagen, schlägt die Stunde mutiger und besonnener Kinder. In diesem Roman sind dies Talyn und Salla, zwei Geschwister, und deren Freunde Nehtiri und Dulf. Komplettiert wird die Gruppe von dem Vorlakk-Jungen BaRakk, dem sie während des Angriffs der Tentakelwale das Leben retten konnten. Ihnen wurde die Geschichte zugetragen, dass es ein Horn geben soll, mit dem die entflohenen Tiere wieder eingefangen und zu ihren Besitzern zurückgebracht werden können. Sie überreden die Anführer der Menschen von Dûhn und der Vorlakks zu einem Waffenstillstand, der genau 15 Tage andauern soll. In dieser Zeit, so versprechen sie, werden sie mit dem Horn der Rohira zurückkehren, um den dauerhaften Frieden zu retten. Wie sie das genau anstellen sollen und welche Gefahren ihnen auf ihrem Weg durch das Wolkenmeer begegnen werden, davon haben die Fünf nicht die geringste Ahnung, als sie mit ihren Riesenadlern auf die gefährliche Reise aufbrechen.

In den Romanen des Schriftsteller-Duos Bernd Perplies und Christian Humberg sind traditionell Kinder die Protagonisten, so auch in „Die Adlerreiter und das Horn der Rohira“. Da ist der zwölfjährige Talyn, im Herzen ein reiner Abenteurer, der seine Zeit am liebsten auf dem Rücken seines Reitadlers Sturmkralle verbringt. Dulf, ebenfalls zwölf Jahre alt, ist als Sohn einer Bauernfamilie eher bodenständig. Er kennt die Arbeit auf den Feldern in der Gluthitze und scheut vor keiner körperlichen Anstrengung zurück. Ihre Freundin Nehtiri ist eine Tüftlerin und der Technik-Nerd der Gruppe. Statt auf dem Rücken eines Adlers, fliegt sie auf einer selbstentworfener Flugmaschine durch das Wolkenmeer. Stets an ihrer Seite ist Fluff, eine kleine Flugmaus, von der niemand weiß, woher sie eigentlich kommt.

Der Zufall will, dass die Kinder BaRakk das Leben retten, als er von seinem Reittier abgeworfen wird und auf einem Felsen mit dem Tod ringt. Es stellt sich heraus, dass der gleichaltrige Junge der Sohn des Vorlakk-Anführers ist. BaRakk lebt nach dem klaren Code eines Kriegers, in dem Ehre und Stolz eine wichtige Rolle spielen. Doch auch er sieht ein, dass es wichtiger ist, einen Frieden zu retten, als einen Krieg zu beginnen. Komplettiert wird die Gruppe Kinder von der vierzehnjährigen Salla, Talyns älterer Schwester. Sie hat eigentlich gar keinen Sinn für Abenteuer und Gefahren, doch will sie sich ebenfalls auf die Suche nach dem Horn der Rohira begeben, um auf ihren Bruder und die anderen aufzupassen.

Die gemeinsame Reise der Kinder führt fort von Dûhn, weit hinein in das Wolkenmeer. Da haben die Autoren etwas Besonderes geschaffen, indem sie die Idee eines Meeres in die Luft transferiert haben. Die Wasseroberfläche ist nun ein dichter Wolkenteppich aus luftigem Dunst. Was unter ihm liegt, weiß niemand so genau, doch es existieren Geschichten von Gefahren und Monstern. Kein Ort, den jemand freiwillig erkunden will. Über der Wolkendecke haben sie eine Welt von kleinen und großen schwebenden Inseln entstehen lassen, auf denen sich die Völker des Wolkenmeers angesiedelt haben. Dort wachsen Ballonbäume mit süßen Früchten, auf den Feldern wächst der Windweizen und Regenwasser speichert sich in natürlichen Reservoirs. Dass alles schwebt, ermöglichen die magischen Kyrillian-Kristalle, denen die Eigenheit innewohnt, immer nach oben zu steigen. Die sorgen auch dafür, dass kleine Boote und große Handelsschiffe durch die Lüfte manövriert werden können. Es existiert auch Handel zwischen einzelnen Gebieten und Waren werden in die verschiedenen Gegenden transportiert. Alles in allem ist das Wolkenmeer eine fantastische, neue Welt, die jedoch so weitläufig ist, dass man nur eine ungefähre Vorstellung hat, was in der Ferne liegt.

So kommt in dieser Welt Flugtieren eine besondere Bedeutung zu. Um reisen zu können, brüten die Menschen Eier von Riesenadlern auf, ziehen sie groß und trainieren sie. Dabei entstehen besondere Bindungen zwischen Tier und Reiter. Und auch auf weitere flugfähige Wesen werden die Freunde auf ihrer Reise treffen, wie etwa Vogelmenschen und Drachen.

„Die Adlerreiter und das Horn der Rohira“ ist ein Roman über sich ändernde, dynamische Freundschaften und über die Reise selbst. Auf ihrem Abenteuer geraten die Kinder immer wieder in Situationen, in denen sie ihre eigenen Denkmuster hinterfragen dürfen. Vor allem der stolze BaRakk erkennt, dass es außer Ehre und Stolz auch andere Attribute im Zusammenleben gibt, die ihm in seinem Volk der Vorlakk nicht beigebracht wurden. Wie ein roter Faden zieht sich die Idee durch den Roman, dass die Reise selbst der Grund ist, warum man spannende Momente erlebt, und wie sich Ziele in einem Leben nur dadurch eröffnen, dass man sich bewusst auf Neues einlässt. Dabei entstehen wundervollen Erfahrungen, die dabei helfen, die eigenen Ängste zu überwinden. Somit bietet der Roman Kindern ein wundervolles Vorbild dafür, eigene Wege zu gehen und so ihre eigenen Erfahrungen zu machen.

Denn wie im echten Leben stoßen die Helden des Buches auf einiges, was sie nicht eingeplant haben. Sie müssen mit Enttäuschungen leben, entgehen gleich mehrmals nur mit knapper Not dem sicheren Tod, treffen auf Luftpiraten und erreichen doch am Schluss an ihr Ziel. Nur ihrer eigenen Entschlossenheit verdanken sie es, dass sie das Horn der Rohira finden und den Krieg abwenden können.

Mit mehr als 360 Seiten ist der Roman ein richtiger Schmöker und er lässt sich Zeit, darin die Welt und ihre Besonderheiten zu beschreiben. Unterteilt ist er in 27 Kapitel. Das ist für manches zehnjährige Kind sicher eine Lese-Herausforderung, was den Umfang betrifft. Dabei bleibt die Sprache des Autoren-Duos jedoch immer leicht verständlich und nachvollziehbar. Also nur Mut und die Herausforderung nicht scheuen. Neben der enorm spannenden Geschichte bleibt auch immer Zeit für kleine Neckereien oder den vertraulichen Austausch unter den Protagonisten. So wächst uns die nerdige Tüftlerin Nehtiri ebenso ans Herz, wie der zuerst großspurige BaRakk.

Fazit: Das Wolkenmeer ist ein perfektes Beispiel dafür, wie eine neue, spannende und zugleich realistische Welt erschaffen werden kann. Darin entfaltet sich in „Die Adlerreiter und das Horn der Rohira“ eine Art Roadtrip-Abenteuer, in dem die Freunde zwar keine Ahnung haben, worauf sie sich einlassen, aber durch ihre Unvoreingenommenheit und Zielstrebigkeit am Ende erfolgreich sind. Unterwegs passiert alles das, was wir auch in einem Fantasy-Roman, der auf oder unter der Erde spielt, so mögen: Wir erleben atemberaubende Abenteuer! Hoffentlich können wir in weiteren Romanen noch mehr von dieser wunderbaren Welt und ihren mutigen Kindern erfahren.

Die Adlerreiter und das Horn der Rohira
Fantasy-Roman für Kinder ab 10 Jahren
Bernd Perplies & Christian Humberg
Thienemann 2022
ISBN: 978-3-522-18569-1
368 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 15

bei amazon.de bestellen