Waisen 4: Kugeln und Lügen

Man lebt in einer Welt voller Lügen und Halbwahrheiten, um das Leben optimistisch zu sehen oder zumindest zu ertragen. Es sind diese Lebenslügen, die die tägliche Routine in das große Ganze einbetten, um nicht verrückt zu werden oder an Selbstzweifeln zu ersticken. Doch was passiert, wenn der Boden unter der erschaffenen Realität wegbricht?

von Lars Jeske

Das Cover zeigt den Moment, in dem wir Pistolero zur Halbzeit der Comic-Serie verlassen hatten. Als Erwachsener ist er endlich hinter eines der Geheimnisse seiner Ausbilder gekommen und fordert nun Rede und Antwort, anstatt immer nur Kugeln und Lügen. Bevor aber wieder diese aktuelle Zeitlinie in den Fokus rückt, gibt es wie immer einen Rückblick in die Vergangenheit der Waisen. Zuerst gibt es wie üblich eine Szene, die sich vor alledem mit den Gedanken eines der Protagonisten beschäftigt. Dann folgt eine Situation mit den Kindern, die zeigt, wie sie sich einmal mehr während ihrer militärischen Ausbildung schlagen. Wiederum erhält man als Leser Einblicke in die Charaktere der Jugendlichen, wodurch man mittlerweile einen guten Überblick über alle Mitglieder der Gruppe gewonnen hat und sie schon recht gut einschätzen kann.

Es ist spannend zu sehen, dass ihr spätkindliches Verhalten sich in Zukunft noch ausgeprägter manifestiert hat und welche Konsequenzen sich dadurch bei theoretisch verschiedenen Handlungsalternativen ergeben. Man wird als Leser automatisch in die Rolle der Versuchsleiter gedrängt, was ein echt fieser Trick der Autoren ist, um sich entgegen aller Moral als Leser auch mit den eindeutigen Antagonisten der Reihe verbunden zu fühlen, wenn nicht sogar als Mittäter vereinnahmt zu werden.

Was dann folgt, ist der bisher stärkste Band der Reihe. Endlich werden die tatsächlichen Verhältnisse und die Gründe für das Existieren der Waisen an sich offenbart. Das wird in solch effektivener Deutlichkeit schnörkellos dargeboten, dass einem die Augen ob dieser Kaltschnäuzigkeit heraustreten. Nachdem man sich noch nicht einmal richtig von dieser emotionalen Breitseite erholt hat, bekommt man im zweiten Teil dieses Bandes einen guten Überblick über die Charaktere. Denn es gibt eine Kameradenbewertung, die ebenfalls auf den Punkt ist und es einem als Leser gestattet, die gedanklichen Notizen, die man sich bisher beim Lesen der Reihe gemacht hat, fast in Checkbox-Manier abzuhaken, wobei gegebenenfalls Entgangenes komplettiert wird. Ein sehr toller Erzählstil für diese Sequenz.

Hinzu kommt, dass dieser Band der bisher optisch brutalste ist. Es gibt massenweise Schlachten und Gemetzel an Mensch und Maschine, dass das Blut nur so spritzt. Umgesetzt wurde diese tolle Synergie aus Inhalt und Bildern zum einen vom Team Giorgio Santucci, Alessandro Bignamini mit den Farben von Luca Bertelé und Giovanna Niro, sowie der zweite Teil durch Davide Gianfelice und Stefano Simeone. Vor allem bei den Letztgenannten sind die Einsätze der Armee an der Bevölkerung, die nichts anderes als Mord sind, auf mehreren Seiten ausführlich veranschaulicht, wodurch vor allem dieser Band nichts für schwache Nerven ist.

Zum Finale gibt es eine faustdicke Überraschung in der Handlung, die einen umso mehr auf den nächsten Band fiebern lässt. Vor allem durch die Gegensätzlichkeit der entworfenen Charaktere fällt es dem Leser schwer, sich für eine Argumentation zu entscheiden. Selbst unter den Waisen gibt es hierbei mehrere analytische Sichtweisen der Situation und plausible Bewertungen, sodass dem Leser einmal mehr vor Augen geführt wird, dass das Leben nicht schwarz oder weiß ist und es nicht immer die eine Lösung für ein Problem gibt.

Der Bonus an Ende dieses Bandes ist eine überaus intensive Anatomiestudie. Diese lässt einen sehr viel über menschliche Verhaltenstypen und deren Mimik und Gestik erfahren. Danach wird man sich diesen Band sofort erneut anschauen, um zu sehen, welche Details einem in der Umsetzung hier entgangen sind und worauf man von nun an in dieser Reihe und allen anderen Comics weitaus mehr achten wird als bislang.  

Fazit: Der Doppelband „Kugeln und Lügen“ ist der bisher beste Teil der Serie mit einer unglaublichen Spannungsdichte. Nicht nur beinhaltet dieser eine hervorragende Zusammenfassung der bisherigen Ereignisse beider Zeitebenen, sondern auch jede Menge blutige Action und überraschende Wendungen sowie wertige Bonusseiten. Wer kann, sollte diese hervorragende Comic-Reihe unbedingt in die Finger bekommen, da diese sowohl inhaltlich überzeugt als auch top umgesetzt ist.

Waisen 4: Kugeln und Lügen
Comic
Roberto Recchioni, Giorgio Santucci, Alessandro Bignamini, u.a.
Cross Cult 2014
ISBN: 978-3-86425-393-5
207 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 16,80

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