von Daniel Pabst

Statt in ein High-Fantasy-Setting wie mit „Dungeons & Dragons“ oder „Pathfinder“ einzusteigen, verschlägt es so manche Abenteurerin oder manchen Abenteurer in eine düstere Zukunft voller Endzeit-Atmosphäre, fern von klassischen Zaubertricks und Magie. Eines der beliebtesten Science-Fiction-Subgenres ist das der dystopischen Zukunft. Bereits seit Jahrzehnten erstrahlt dieses Genre auf der Kinoleinwand und ließ heutige Genreklassiker entstehen. Zu nennen wären da exemplarisch: „Blade Runner“, „Vernetzt – Johnny Mnemonic“, „Strange Days“, „Brazil“ oder auch der Anime „Ghost in the Shell“.

Genau in so einer Welt spielt auch „Cyberpunk RED“, die vierte Auflage des Rollenspiels „Cyberpunk“ aus dem Jahre 1989. Die Story schließt an „Cyberpunk 2020“ an und spielt ab dem Jahre 2045. Damit kann man praktischerweise seine eigene Vorgeschichte passend zum AAA-Videospiel von CD Project Red, „Cyberpunk 2077“, erspielen. Die deutsche Version dieses Startersets erschien 2021 bei TRUANT Spiele.

Der Titel ist nicht nur eine Anspielung auf das Entwicklerstudio Red, mit welchem im großen Maße kooperiert wurde, damit sich das Role-Playing-Game (RPG) nahtlos in das Spielgeschehen einfügt. Lore-technisch ist zudem die „Rote Ära“ angebrochen. Die militärische Auseinandersetzung zweier Megakons endete mit dem Zünden einer „Mini-Atombombe“, wodurch man jeden Tag durch rote Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge „begrüßt“ wird. Und auch in dem Inhalt dieser Box dominiert ein einheitlicher roter Stil der Darstellungen.

Was ist in der Box?

Die beiden wichtigsten Inhalte des „Cyberpunk RED: Starterset“ sind zwei Softcover-Heft mit jeweils etwa 50 Seiten. Zunächst erhält man einen Überblick über die Welt und Vergangenheit von „Cyberpunk RED“. Darin ist auch ein Intro-Abenteuer mit dem Titel „Trautes Heim“ für eine Gruppe von 3 bis 6 Spielercharakteren enthalten, welches sich lediglich über sechs Seiten spannt. Da hier einige Ereignisse der Story nur grob erklärt werden, ist hier entweder Improvisation oder zusätzliche Vorbereitung vom Spielleiter gefragt.

Im zweiten Heft werden die essenziellen Spielmechaniken erläutert. Wer bereits etwas Rollenspiel-Erfahrung hat, sollte sich mit diesen nicht besonders schwertun. Aber auch Neulinge können mit diesem Starterset ihren Einstieg finden. Natürlich sind auch Charakterbögen für sechs vorgefertigte Antihelden inkludiert. Dieses Material könnte so als Demo für das System ausreichen. Da dieses Starterset aber preislich über den Preisen von vergleichbaren Einführungssets liegt, sind natürlich noch weitere Inhalte enthalten, die das preisliche Plus kompensieren.



Statt nur die ganze Action im Kopf zu haben, kommt dieses Starterset mit einigem Material für ein dreidimensionales Spielerlebnis daher, ähnlich wie bei einem Brettspiel. Den Beginn macht ein Würfelset, bestehend aus 4xW6 und 2xW10 in der Box, welche ganz im Stile von „Cyberpunk“ gestaltet sind. Die Zahlen 1 bis 5 sehen wie Data-Chips aus, während die Zahl 6 das „Cyberpunk“-Logo (CP) aufgedruckt hat. Weiterhin gibt es einen Bogen aus Papptokens und 10 Plastikfüßen, damit sich die Figuren auf den beiden doppelseitig bedruckten Ortskarten bewegen können. Auch sind Fahrzeuge aus Pappe enthalten (nicht jedoch in 3D). Abschließend gibt es für die Spielleitung einen Schnellreferenz-Bogen, welcher, ähnlich einem Spielleiter-Screen, wichtige Informationen zum schnellen Nachschlagen zeigt.

Wo wird gespielt? Das Umfeld der „Night City“

Zu der Stadt „Night City“ findet man im „Starterset“ die Angaben: gegründet 1994, Bevölkerung 5 Millionen, Unternehmen: Technik, Leichtindustrie, Handel und Elektronik, gefolgt von Schlagzeilen über die Stadt und Zitate wie: „Niemand verlässt jemals Night City. Außer in einem Leichensack“. In der Welt ist die Versorgung nur unregelmäßig, das Gesetz ein Glücksspiel. Im NET kann man nicht mehr bis zur Grenze des Alls laufen, die digitalen Agenten sind nicht mehr die neuesten und die Waffen sind nicht die besten auf dem Markt. Dafür aber, so erfahren wir, gibt es luxuriöse Gärten auf Dächern und Grünwänden, die dank Sonnenkollektoren und freundlichem Tech aus der Nachbarschaft ausreichend Essen und Strom liefern, sofern man es sich leisten kann.
Ansonsten muss man auf Kibble, ein Nährpräparat aus Seetang, Plankton und Sojabohnen oder Fertigfutter zurückgreifen.

Wenigstens ist auf die Schieber Verlass, die einen mit neuen (rechtswidrigen) Drogen und Cyberware versorgen. Nachtmärkte pulsieren und können jederzeit und überall in den Gassen aufmachen. In Night City ist euer Dreh- und Angelpunkt die Straße, auf der weiterhin Autos und Bikes ihre Bahnen ziehen! Ihr lebt in einer „Stadt der gefallenen Engel“, in der man sich eigentlich aus jeglichem Ärger raushalten sollte, bevor einem die Härte des „Einheitlichen Bürgerlichen Strafgesetzbuches“ trifft. Kulturell brechen die Rocker alle Rekorde und bieten mit ihren „Performances“ Formate, die sie zu Idolen und Rebellen werden lassen: „Musik führt uns zum Herzen unserer Kultur und lässt uns ihren Puls spüren“ (Cyberpunk RED-Rockster Magazine).

In diesem urbanen Umfeld aus irrgartenähnlichen Straßen und Gassen, aus Wolkenkratzern und ausgebrannten Ruinen also startet das Abenteuer. Vorzubereiten hat man sich auf Gangs, die plündernd durch die Stadt ziehen und die Umgebung zu einem kleinen Schlachtfeld verwandeln. Ihr mittendrin. Das Starterset weist daraufhin, dass zwar die Geschichten ihren Startpunkt meist in der Stadt haben, es außerhalb aber ebenfalls Abenteuer zu entdecken gibt. Dort leben Nomaden inmitten von Staub, CHOOH2 und Schrott ähnlich der Welt von „Mad Max“.



Wie wird gespielt? Charaktererschaffung und mehr

Vor jeder epischen Kampagne, müssen zuerst die entsprechenden Helden der Spielerinnen und Spieler konstruiert werden. In „Cyberpunk RED“ wählt man für den eigenen Charakter eine von neun Rollen aus. Diese sind: Rockster, Solos, Netrunner, Techs, Medias, Gesetzeshüter, Konzerner, Schieber und Nomaden. Von sechs dieser unterschiedlichen Rollen sind im „Starterset“ bereits vorgefertigte Charakterbögen zum Auswählen und schnellen Losspielen beigelegt. Spielt einen Rockster, wenn ihr Musik liebt und gleichzeitig damit eure Kritik am herrschenden System rausbrüllen wollt. Liegen euch Fahrzeuge und Straßenkriege am Herzen, so ist die Nomadin euer Charakter. Netrunner sind Hacker, welche mit ihren flinken Fingern digitale Geheimnisse entlocken können. Solos sind harte Typen, die sich nicht zu schade sind, sich die Hände schmutzig zu machen. Techs sind Experten auf dem Gebiet der Mechanik. Da in dieser Welt fast alle Lebewesen mit Cyberware geboostet sind, fungieren sie zeitgleich auch als Ärzte für die künstlichen Teile des Körpers. Abschließend sind Schieber die unauffälligen, düsteren Gestalten der Straßen, die mit Informationen und illegaler Ware handeln. Entsprechend der gewählten Rolle sind eure Attribute, Fertigkeiten und Trefferpunkte individuell ausgeprägt.

Nachdem jede und jeder von euch dem gewählten Charakter einen Hintergrund, eine Motivation und eine Persönlichkeit verpasst hat, müsst ihr nur noch lernen, wie man in der Welt von „Cyberpunk RED“ zurechtkommt. Wenn ihr versucht, eine Aktion durchzuführen, so stellt sich immer die Frage, ob dem Charakter dies gelingt oder ob er scheitert. Hierbei kommen – wie für ein Rollenspiel typisch – die Würfel ins Spiel. Das Regelheft konstatiert knapp: „Für praktisch alles, was man in Cyberpunk tut, kombiniert man einfach ein Attribut mit einer Fertigkeit und einem Wurf mit 1W10 gegen einen Schwierigkeitsgrad. Wenn deine Probe darüber liegt, dann hast du es geschafft! Alles andere ist nur Beiwerk.“

Damit der Cyber in den Punk kommt, haben eure Charaktere neben Panzerung und Waffen die passende Cyberware. Mit Hilfe von Cybertech könnt ihr eure Figuren mächtig aufpeppen. Ihr könnt ganze Körperteile durch künstliche Varianten ersetzten oder eure natürlichen Sinne verstärken. Wer darauf steht und entsprechend liquide ist, kann sich eine Cyberwaffe in den Arm setzten oder die eigenen Hände durch Krallen modifizieren.

Ein gelungener Einstieg in die Zukunft?

Das Intro-Abenteuer dient wirklich nur als oberflächlicher Einstieg in die chaotische und sehr komplexe Welt von „Cyberpunk“. Es lässt sich problemlos in wenigen Stunden durchspielen, präsentiert in dieser Zeit aber einen Großteil der Mechanismen und der Stimmung, die ein „Cyberpunk“-Abenteuer ausmachen. Die alltäglichen Gefahren und die Ruchlosigkeit der futuristischen Gesellschaft können für so manch spannendes Abenteuer sorgen.



Die Missionen bei diesem Rollenspiel sind in vier Kategorien einzuteilen: Infiltration/Raub, Anschlag, Ermittlung und Verteidigung. Die Mission, die das „Starterset“ bietet, heißt: „Trautes Heim“. Hierbei handelt es sich um eine „Verteidigung“ in drei spielerischen Akten. Die Charaktere befinden sich in ihrem trautem Heim, ähnlich einer modernen Wohnungsgemeinschaft. Dort leben neben euren Charakteren noch einige etwas obskure Nachbarn, die für einen bildhaften Einstieg in die Spielwelt von „Cyberpunk RED“ sorgen. Diese temporäre Friedlichkeit scheint durch die Gier eines der Mega-Konzerne rasch gestört zu werden. Es liegt an euch, herauszufinden, welche Machenschaften im Hintergrund laufen, und zu versuchen, eure kleine „Familie“ beisammen zu halten. Durch eine Auswahl an Nachbarn und vier verschiedene Möglichkeiten, welchen Lauf der dritte und finale Akt nehmen soll, kann so die Spielleitung ein auf die eigene Spielergruppe bestmöglich passendes Erlebnis kreieren.

Es werden zudem im Anschluss an das gespielte Abenteuer sogenannte „Scream Sheets“ für ein eigenes Abenteuer vorgestellt, die als Anweisung dienen. Doch wer bereits eine Kampagne geleitet hat, der weiß, dass dies viel (Vor-)Arbeit bedeutet, besonders wenn man kaum Unterstützung von passenden RPG-Büchern erhält. Hier wäre es wünschenswert gewesen, wenn dieses Spielsystem in der Zukunft noch weitere Story-Werke erhält, damit besonders neuen Spielleitern und Spielleiterinnen unter die Arme gegriffen wird. Momentan ist für eine langfristige Kampagne eine hervorragende Spielleitung (ohne fertige Spielmodulen für diese „Cyberpunk“-Version) unabdingbar. Die Sorge, ob noch mehr kommt, beziehungsweise ob sich das zeitliche Investment in dieses neue RPG-Regelsystem lohnt, ist daher berechtigt. Falls man Freude an dem Spielsystem findet und einen das Thema interessiert, so darf man sich auf das mehr als 400 Seiten dicke „Grundregelwerk“ des Rollenspiels freuen, welches hoffentlich bald auch auf deutscher Sprache erscheinen wird.

Analog oder digital?

Wenn man auf die stylischen Würfel, welche man auch genau in diesem Form für knapp 12 Euro separat erwerben kann, verzichten kann und wer bereits über Miniaturen verfügt, dem kann der kostengünstige Erwerb des PDFs ans Herz gelegt werden. Hier erhält man für nicht mal 10 Euro dieselben Dokumente wie in dem Starterset. Damit kann man das System gleichfalls kennenlernen, ohne natürlich das sehr nette Beiwerk sein Eigen nennen zu dürfen. Wer momentan auf lokale Spielesessions verzichten muss und auf Online-Websites spielt, der wird ohnehin kaum den Unterschied zur physischen Kopie merken. Die Fotos und digitalen Inhalte können zudem einfacher für das Online-Spiel geteilt und dort implementiert werden.

Fazit: Dem „Cyberpunk RED: Starterset“ gelingt ein charmanter, wenngleich auch bedrückender Einstieg in eine moderne, futuristische Millionenstadt. Dennoch kann man das Ganze nicht mehr als einen Appetizer betrachten, dem (hoffentlich) schnell ein Hauptgericht folgt. Ohne dessen Erfüllung, droht die Gefahr, dass wieder andere Rollenspiele auf den (momentan virtuellen) Tisch kommen und dieses Werk vorerst im Spieleschrank landet.

Cyberpunk RED: Starterset
Regelwerk
Mike Pondsmith, David Ackerman, J Gray
Truant Spiele 2021
ISBN: 978-3-934282-98-8
Box mit 2 Heften, Würfeln, Pappmarkern etc., deutsch
Preis: EUR 34,95

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