Beyond the Wall und andere Abenteuer

Die Welle der sogenannten „Retro-Klone“ reißt nicht ab. Diese, sich auf die einfachsten „Dungeons & Dragons“-Regeln rückbesinnenden Old-School-Rollenspiele erfahren in den letzten Jahren eine wahre Renaissance. Auch „Beyond the Wall“ nutzt das altbekannte D20-Prinzip. Doch es will mehr sein.

von André Frenzer

„Beyond the Wall“ aus der Feder von John Cocking und Peter Williams wurde bereits 2012 von Flatland Games veröffentlicht. Nun legt der junge deutsche Verlag System Matters die – mit einer Vorbestelleraktion finanzierte – deutsche Übersetzung vor. „Beyond the Wall“ erscheint in der deutschen Version nicht in der rollenspielüblichen Aufmachung als Hardcover-Band. Stattdessen liegt eine Mappe vor mir, die drei Softcoverbücher und einen ganzen Haufen weiteres Material enthält. Neben dem „Regelwerk“, dem „Spielleiterhandbuch“ und dem „Buch der Zauber“ finden sich noch Charakterbögen, eine Dorfkarte im A3-Format (dazu später mehr), vier Szenarienhefte und sechs Charakterbücher in der Mappe wieder. Das Material ist durchgängig in einem dezenten Grünton gehalten und wirkt wie aus einem Guss. Das Layout erhält eine gute Zwischennote, die Langlebigkeit der einzelnen Komponenten möchte ich aber anzweifeln.

Das Regelwerk ist schnell studiert und eingängig. Jeder Charakter besteht – ganz klassisch – aus sechs Attributen. Je höher der Wert, desto besser, denn bei Proben gilt es, seinen Attributswert mit einem W20 zu unterwürfeln. Eine Fertigkeitenliste im eigentlichen Sinne gibt es nicht; Fertigkeiten werden eher intuitiv vergeben. Wer aber eine der Situation angemessene Fertigkeit besitzt, erhält auf seine Attributsprobe entsprechende Boni. Auch der Kampf läuft ähnlich simpel, gilt es doch mit einem W20 und seinem – aus den Attributen hervorgehenden – Angriffsbonus die Rüstungsklasse des Gegners zu überwürfeln. Kenner von „Dungeons & Dragons“ in einer seiner Inkarnationen werden sich rasch heimisch fühlen.

Das Spielleiterhandbuch enthält – neben einigen wenigen Hinweisen auf die Rolle des Spielleiters und welche Fallstricke es zu vermeiden gilt – in erster Linie Spielzeuge für den Spielleiter: magische Gegenstände, Artefakte und ein umfangreiches Bestiarium, um die Helden an ihre Leistungsgrenzen zu bringen. Regeln zum Erschaffen eigener Kreaturen runden den Band ab. Das Buch der Zauber wiederum enthält alle in „Beyond the Wall“ zur Verfügung stehenden Zauber. Das sind auf den ersten Blick recht wenige und gerade die klassischen Geschosszauber wurden deutlich entschärft. Doch es ist eine gesunde Auswahl nützlicher und hilfreicher Sprüche vorhanden, die der zaubernden Zunft eine breite Variation erlauben.

Was aber ist nun das Besondere an „Beyond the Wall“? Das Spiel erscheint zunächst ohne vorbereitetes Setting, denn dieses erschaffen bei „Beyond the Wall“ Spieler und Spielleiter gemeinsam. Die sechs mitgelieferten Charakterbücher führen Spieler durch die Charaktergenerierung. Während der Hintergrund des Charakters durch mehrere Zufallstabellen bestimmt wird, werden Bande zwischen den Charakteren geknüpft und auch zu dem Dorf, in dem sie leben. Das geht so weit, dass jeder Spieler während der Charaktergenerierung Orte oder Persönlichkeiten auf der mitgelieferten Dorfkarte platziert und so die Hintergrundwelt aller Charaktere maßgeblich beeinflusst. Dem Spielleiter kommt nun die Aufgabe zu, aus den zahlreichen Anspielungen und Ideen, die dem Hintergrund der Charaktere entspringen, in das erste Abenteuer überzuleiten. Auch die vorgefertigten Szenarien bestehen meistenteils aus Zufallstabellen, die wiederum zumindest teilweise Bezug auf die Ergebnisse der Charaktererschaffung nehmen. So entsteht innerhalb weniger Minuten eine komplexe Hintergrundgeschichte, die genügend Stoff bietet, um den Spieleabend zu bestreiten.

„Beyond the Wall“ ist damit sicher kein Einsteigersystem. Zwar ist es sehr regelleicht, versprüht einen Charme der jeden „Herr der Ringe“-Fan sofort anspricht und bietet eine Menge Material, um sofort loszuspielen. Doch es erfordert zumindest vom Spielleiter ein hohes Maß an Flexibilität und Improvisationsvermögen, um mit den vor wenigen Minuten erwürfelten Ergebnissen einen Spieleabend zu gestalten. Natürlich kann man auch den klassischen Weg der Charaktererschaffung und Abenteuergestaltung gehen, nimmt damit jedoch gleichzeitig auch den Reiz des Unerwarteten aus dem System. Für erfahrene Gruppen, die einen Spieleabend nicht in voller Stärke antreten können und spontan überbrücken möchten ist „Beyond the Wall“ aber eine unbedingte Empfehlung.

Fazit: „Beyond the Wall“ ist nicht einfach ein weiterer OSR-Klon. Es ist die ultimative Lösung, um einen spontanen Spieleabend zu gestalten. Die wenig diverse Charakterentwicklung und der niedrige Detaillevel der Regeln stehen aber einem langen Kampagnenspiel eher im Wege. Eine unbedingte Empfehlung für alle, die ein spontanes System suchen, Freude an Improvisation haben und gerne mit einfachen Regeln spielen.


Beyond the Wall und andere Abenteuer
Grundregelwerk
John Cocking, Peter Williams
System Matters Verlag 2016
ISBN: n.a.
42 S., 48 S. und 46 S., Softcover, deutsch
Preis: EUR 24,95

bei System Matters Verlag kaufen