Aborea: Atlas der bekannten Welt

„Aborea“ weist nicht nur eine gewisse Beständigkeit auf – immerhin sind die Regeländerungen in der jüngst erschienenen fünften Auflage nach wie vor eher marginal – sondern auch ein leider sehr kleines Produktportfolio. Mit dem „Atlas der bekannten Welt“ liegt nun immerhin ein umfangreicher Wälzer vor, der Palea, das Setting „Aboreas“, näher vorstellen soll.

von Jens Krohnen

Verfasst ist das Ganze aus der Sicht eines Gelehrten der Welt „Aboreas“, der aus allen Winkeln des Kontinents Informationen gesammelt hat, um sie hier dem geneigten Leser zu präsentieren. Und wahrhaft fleißig war dieser imaginäre Schreiberling – über 300 Seiten hat er zusammengetragen, um Spielleitern wie Spielern die verschiedenen Länder näher zu bringen.

Eröffnet wird der Band mit einer groben Übersicht über den wahrhaft gewaltigen Kontinent Palea. Neben einer kurzen Vorstellung der kleineren Königreiche, die keine weitere Erwähnung im Band finden werden, und einigen Naturwundern ist vor allem die Geschichte des Kontinents auf zehn Seiten präsentiert. Und hier kommt ein wenig „Herr der Ringe“-Feeling auf, wenn wir davon erfahren, dass es verschiedene Zeitalter gab und die präsentierten Zeitabschnitte Jahrtausende umspannen. Die Gegenwart ist im vierten Zeitalter, dem „Erwachen“, angesiedelt und die Vergangenheit sah Kriegszüge, Imperien, Bürgerkriege, Invasionen und Orkenstürme.

Dann aber beginnen die eigentlichen Länderbeschreibungen. Auf über 270 Seiten sind jedem vorgestellten Land oder Landstrich dabei zwei bis sechs Seiten reserviert; die meisten Beschreibungen passen allerdings auf zwei bis drei Seiten. Jedes vorgestellte Reich hat dabei auch eine passende Illustration spendiert bekommen. Die Bandbreite der vorgestellten Reiche entspricht der gewaltigen Größe des Kontinents: von feudalen, mittelalterlich geprägten Königreichen über an Wikinger erinnernde Nordmänner bis hin zu den Nomaden, die die Wüsten des Südens durchstreifen werden alle gängigen Klischees bedient. Doch bei einer derartigen Bandbreite wäre es unfair, die vielen deutlich kreativeren Ideen zu vernachlässigen, die die Autoren hier versammelt haben.

Sei es die von den Göttern gesegnete Klosterinsel Indiri, die nur von Gläubigen und Pilgern betreten werden darf; sei es das von turmartigen Steilfelsen durchzogene Dariel, dessen Bewohner in den höchsten Gipfeln plattformartige Städte errichten haben oder auch das geheimnisumwitterte Kervol, in dem vor Jahrhunderten eine außerirdische Entität mit einem Kometen niedergegangen ist, die seither die Menschen korrumpiert: Auf Palea gibt es Platz für reichlich ausgefallene Orte, die die gewohnten, ausgetretenen Pfade verlassen. Unterschiedliche Zwergenkönigreiche, Elfenreiche im Aufstieg und Niedergang, Landstriche die Monstren und Riesen vorbehalten sind, Gebirgszüge, Wälder. Es gibt scheinbar nichts, was es nicht gibt.

Dabei will der „Atlas“ keine reine Regionalbeschreibung sein, auch, wenn der imaginäre Gelehrte ihn als solche ausgibt. Tatsächlich verlieren die Autoren auch einige Worte über Land und Leute, Geographie und Klima. Viel wichtiger aber ist es ihnen, Abenteueraufhänger zu präsentieren, um die Phantasie der Spielleiter anzuregen. Politische Umwälzungen, Konflikte mit benachbarten Ländern, Ressourcenmangel oder tief in den Wäldern verborgene Geheimnisse: Jedem Landstrich wird mindestens ein Aufhänger spendiert, der das Reich am Spieltisch spannender gestalten soll.

All dieser wohl geratenen Kreativität zum Trotz bin ich mit dem „Atlas“ nicht ganz zufrieden. Denn auch wenn ich die gute Absicht, mehr Abenteuer- als Hintergrundmaterial zu liefern, durchaus anerkenne, hätte ich mir doch eher ein besseres Gefühl für Palea gewünscht. Das wird jedoch durch zwei Dinge erschwert: Zum einen sind die verschiedenen Reiche in alphabetischer Reihenfolge vorgestellt, was es erschwert, beim Lesen ein Gefühl für die Region zu entwickeln, in der das Reich liegt. Wie sieht es im Norden von Palea aus? Das Wissen darüber verteilt sich über den ganzen Band und muss mühsam zusammengesucht werden. Insbesondere für längere Überlandreisen ist die Vorgehensweise – trotz der kleinen Kartenmarkierungen, die die Position des jeweiligen Reiches verdeutlichen – sehr mühsam. Hier hätte ich eine Sortierung nach Himmelsrichtungen zielführender gefunden. Zum anderen werden unzählige NSC vorgestellt, die allesamt aus verständlichen Platzgründen nur einen Kurzauftritt genießen dürfen. Das macht es schwer, ein Gefühl für die politische Situation auf dem Gesamtkontinent zu entwickeln. So bleiben die vielen guten Ideen leider ein wenig Stückwerk.

Optisch ist der „Atlas“ ansprechend aufgemacht. Die über 300 Seiten wurden in einem äußerst stabilen Hardcoverband zusammengefasst, dem gleich zwei Lesebändchen spendiert wurden. Das weiß zu gefallen, insbesondere vor dem Hintergrund des günstigen Preises. Er ist vollfarbig und die Illustrationen bewegen sich auf einem ordentlichen Niveau. Einige wirken leider ein wenig zu digital, doch es gibt auch viele Illustrationen, die für diese Ausrutscher entschädigen. Die Schrift ist klar lesbar und angenehm groß. Für die optische Aufbereitung gibt es damit eine gute Note.

Fazit: Wer auf der Suche nach kreativen Landstrichen, neuen Settingbausteinen und kleinen Kampagnenideen ist, der sollte hier unbedingt einen Blick riskieren. Damit kann ich den „Atlas“ auch Spielleitern anderer Systeme dank des günstigen Preises empfehlen. Wer allerdings ein besseres Gefühl für das „Aborea“-eigene Setting Palea erhalten möchte, muss noch einiges an Sortierarbeit investieren.

Aborea: Atlas der bekannten Welt
Quellenband
Sebastian Witzmann u. a.
13Mann Verlag 2016
ISBN: 978-3941420205
320 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 19,95

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