Marvel 1602

2004 zum ersten Mal in Deutschland erschienen und im Jahr darauf als Hardcover noch einmal herausgebracht, erfuhr die Miniserie „Marvel 1602“ 2010 ihre dritte Ausgabe binnen sechs Jahren. Keine schlechte Leistung und eine erfreuliche obendrein, denn so ist die Reihe von Comicmeister Neil Gaiman und dem Zeichnergespann Andy Kubert und Richard Isanove wieder zum kleinen Preis erhältlich.

von Bastian Ludwig

Inhalt

Doktor Stephen Strange, Hofarzt von Elizabeth I. von England, berichtet der Königin und ihrem Obersten Agenten Nicholas Fury, dass ein mysteriöses Artefakt aus Jerusalem auf dem Weg nach England ist; möglicherweise eine äußerst gefährliche Waffe. Fury schickt deswegen den blinden Sänger Matthew Murdoch aus, den Boten abzufangen und ihn zu eskortieren, denn nicht nur Otto von Doom, Herrscher von Latveria, möchte das Objekt an sich bringen.

Zur gleichen Zeit bekämpft in Spanien die Großinquisition die sogenannte Hexenbrut, Menschen mit besonderen Fähigkeiten, wie den tierhaften Hal McCoy oder Scotius Summerisle, der rote Strahlen aus seinen Augen abfeuern kann. Carlos Javier versucht den Verfolgten in seiner Schule für höhere Söhne Unterschlupf zu gewähren.

Doch all dies wird überschattet von unerklärlichen Wetterphänomenen, die – so vermutete Doktor Strange – eine ernsthafte Bedrohung für die gesamte Welt darstellen könnten. Haben sie etwas mit der jungen Virginia Dare zu tun, dem ersten Kind, das in der Kolonie in der Neuen Welt geboren wurde und die gerade mit dem weißhäutigen, blonden Indianer Rojhaz am Hof von England eingetroffen ist?

Wir schreiben das Jahr 1602, und dies ist nicht das Marvel-Universum, wie wir es kennen.

Besprechung

„1602“ präsentiert uns eine alternative Version des Marvel-Universums in der Tradition der „What if…?“-Comcireihen. Ein Großteil des Lesespaßes entsteht – wie bei allen Alternativversionen des Marvel-Universums – daraus, die bekannten Figuren und ihre Konstellationen in neuem Gewand vorgeführt zu bekommen. Charaktereigenschaften, die schon zum Klischee der jeweiligen Figur geworden sind, werden auf frische Weise präsentiert oder ironisch gebrochen, so etwa wenn Otto von Doom den Beinamen „Der Schöne“ trägt und diesem – zumindest zu Anfang – auch alle Ehre macht. Daneben gibt es eine Unmenge an Anspielungen auf Namen, Orte, Gegenstände oder Storyelemente des regulären Marvel-Universums.

Blickt man auf die reine Handlung, präsentiert sich die Geschichte als eines der typischen Allstar-Crossover-Epen, die beinahe im Jahrestakt auch für das klassische Marvel-Universum in den Regalen der Comicgeschäfte stehen. Irgendeine gigantische Bedrohung taucht auf – und hierbei kleckert „1602“ nicht, sondern klotzt, geht es doch mal eben um die Existenz des gesamten Multiversums – und die Marvel-Helden (und manchmal auch -Schurken) tun sich zusammen, um das drohende Ende zu verhindern. Gegen Ende entwickelt sich das Ganze dann zu einer Metageschichte, die nicht mehr nur in einer alternativen Welt spielt, sondern in dem die Existenz dieses Universums selbst zum Handlungselement wird. Neil Gaiman wäre aber nicht der Erzähler, der er nun einmal ist, wenn er aus einem solchen Plot nicht eine Menge herauszuholen wüsste, und so erleben wir reichlich Ränkespiele, Charakterszenen, griechische Tragödie und Action in einer lebhaft geschilderten Renaissance-Welt, in der sich die Wissenschaftlichkeit des regulären Marvel-Universums noch nicht durchgesetzt hat und der Glaube an Gott und die christliche Kirche an ihre Stelle tritt.

Gaiman unterläuft zum Glück nicht der Fehler, an dem Marvels Allstar-Epen allzu oft scheitern, nämlich der Versuchung zu erliegen, möglichst alle wichtigen Marvel-Charaktere irgendwie in die Handlung hineinquetschen zu wollen. Das Personal ist zwar durchaus umfassend, jedoch spielt jede Figur eine sinnvolle Rolle innerhalb der Handlung und bekommt genügend Raum für die Charakterentfaltung, sodass sich bei keiner das Gefühl einstellt, man hätte sie nur hineingeschrieben, damit ihre Fans die Hefte auch noch kaufen.

Auch bei den Zeichnungen läuft nichts falsch. Andy Kubert ist ein Routinier, dessen Stil zwar nicht gerade vor Ausdruckkraft explodiert, aber dynamisch, detailliert und klar daherkommt; eben ein Vertreter bester Superheldencomictradition. Richard Isanove hat Kuberts Bleistiftzeichnungen mit der enhanced-pencils-Technik bearbeitet, bei der diese nicht erst getuscht, sondern direkt digital koloriert werden, was den fertigen Panels einen Hauch von Bleistiftskizzenatmosphäre verleiht. Außerdem setzt die Kolorierung stark auf Schraffureffekte, sodass letztendlich ein Stil herauskommt, der ein wenig an die Skizzenbücher beispielsweise eines Leonardo da Vinci erinnert, was ausgezeichnet mit dem Setting harmoniert. Trotzdem verleugnen die Zeichnungen dank knalliger Farben nicht, dass es sich hier um einen Superheldencomic handelt.

Fazit: „Marvel 1602“ macht Spaß. Eine etwas altbacken wirkende Superheldengeschichte wird von Neil Gaiman mit Hauptaugenmerk auf die Figuren in einer faszinierenden Alternativwelt ausgezeichnet erzählt und von stimmigen Bildern unterstützt. Und als Extra gibt es viele kleine und große Anspielungen auf das Marvel-Universum. Was will man als Marvel-Fan mehr?


Marvel 1602
Comic
Neil Gaiman, Andy Kubert, Richard Isanove
Panini Comics 2010
ISBN: 978-3-866079-30-4
216 S., deutsch, Softcover
Preis: EUR 19,95

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