Villen des Wahnsinns – Zweite Edition

Groß und unheilschwanger hing der Mond am Himmel. Allein unter den Augen der Sterne kamen Rita allmählich Zweifel. Je länger sie verweilte und in den Himmel blickte, desto weiter konnte sie sehen. Vor ihr erstreckten sich die grenzenlosen Gefilde der Unendlichkeit. Sie wandte den Blick ab, sah auf das Haus, das sich an die Hügelkuppe schmiegte. Doch das Haus war nicht viel besser. Finster und monolithisch, wie ein stummer Wächter, blickte es auf das schlafende Städtchen Arkham hinab. Sein Schweigen war voller Bosheit und Rita konnte kaum glauben, dass sie tatsächlich vorgehabt hatte hineinzugehen ...

von Frank Stein

Mit diesen Worten beginnt das Regelheft des cthuloiden Brettspiels „Villen des Wahnsinns“ von Fantasy Flight Games, das jüngst in seiner zweiten Edition beim Heidelberger Spieleverlag auf Deutsch erschienen ist. Diese Zeilen sagen schon eine Menge über das Spiel aus. Zum einen beschreiben sie, worum es geht. Die Spieler übernehmen eine Gruppe Ermittler, die – passend zum Titel – in unheimliche Gemäuer vordringt, um in unterschiedlichen Szenarien diversen Herausforderungen zu trotzen, bis sie das Ziel des Szenarios erreicht haben. Zum anderen vermitteln die Zeilen aber auch, dass Atmosphäre in „Villen des Wahnsinns“ groß geschrieben wird. „Villen des Wahnsinns“ ist nicht einfach nur eine Art Dungeon Crawler, der an der Ostküste Amerikas in den 1920ern angesiedelt ist, dem typischen Setting der Horrorgeschichten des amerikanischen Schriftsteller H. P. Lovecraft. Das Spiel ist vielmehr ein außergewöhnlicher Hybrid, der Brettspiel-, Videospiel- und Rollenspielelemente in sich vereint und dadurch eine extrem dichte Erzählerfahrung bietet.

Der Brettspielaspekt spiegelt sich im Spielmaterial wider. Plastikfigürchen für acht Ermittler und zahlreiche Monster, 24 beidseitig bedruckte, modulare Spielplanteile, achtseitige Würfel, Ausrüstungskarten, Pappmarker, die etwa Feuer, Dunkelheit, Barrieren oder Geheimgänge darstellen – das alles kennt man von zahlreichen Genre-Spielen dieser Art, beispielsweise „Star Wars: Imperial Assault“, „Maus & Mystik“ oder „Dungeon Saga“. Genau wie dort, ziehen die Spieler ihre Figuren hier über den Spielplan, bekämpfen Monster, lösen Rätsel und streben danach, die Siegbedingungen des jeweiligen Szenarios zu erfüllen. Dabei ist der Spielablauf bei „Villen des Wahnsinns“ denkbar einfach. Die Runden bestehen aus zwei Phasen, der Ermittlerphase und der Mythosphase, wobei die Ermittler in ihrer Phase je zwei Aktionen durchführen dürfen – etwa Bewegen, Kämpfen oder Erkunden –, während in der Mythosphase die Monster zuschlagen und ganz allgemein schlimme Dinge geschehen. (Diese Mythosphase ist für die cthuloiden Brettspiele von FFG schon fast prägendes Merkmal, und sie findet sich auch beispielsweise in „Arkham Horror“, „Das Ältere Zeichen“ oder „Arkham Horror – Das Kartenspiel“.)

Anders als bei allen genannten Beispielen wird zum Spielen von „Villen des Wahnsinns“ zwingend die Verwendung einer App vorausgesetzt, die parallel zur Partie auf einem Laptop oder Tablet-PC laufen muss. (Smartphone geht zwar im Prinzip auch, empfiehlt sich aber nur bei großem Display.) Hier kommt das Videogame-Element ins Spiel. Die App trägt dabei dem Bedürfnis vieler Gamer nach rein kooperativen Spielen Rechnung und übernimmt die Rolle des Spielleiters. Sie deckt nach und nach die Räume für die Ermittler auf, sie steuert Monster, sie würgt den Spielern in jeder Mythosphase immer wieder eins rein. Außerdem gibt sie alle anfallenden Würfelproben vor und erzählt mit jedem winzigen Textfragment die Geschichte weiter. Gut, genau genommen muss einer der Spieler die Geschichte vorlesen, außer dem Introtext ist nichts vertont. Das ist aber kein Kritikpunkt, denn da sogar bei jedem Angriff und jeder Fertigkeitsprobe ein kleiner Flufftext dabei ist, kommt es zwangsläufig irgendwann zu Wiederholungen – und die will man nicht wieder und wieder vorgelesen bekommen. Wirklich gelungen – neben dem gesteuerten, sukzessiven Aufdecken des Spielplans – sind auch die Schiebe- und Zahlenrätsel, die jeweils passend in die Szenarien eingebunden sind und von der App als Minispiele präsentiert werden. Doch obwohl die App insgesamt sehr präsent ist, erfolgt die taktische Planung dennoch nach wie vor am Spielbrett, das heißt, beide Teile tragen gleichwertig zum Spielerleben bei.



Zur fast schon rollenspielerischen Erfahrung wird „Villen des Wahnsinns“ durch die sehr atmosphärischen Szenarien, die schon mehrfach erwähnt wurden. Die Fälle, die übrigens entgegen des Spieltitels mitnichten alle in Villen spielen, sind in etwa zwei bis sechs Stunden zu lösen, wobei vier bis fünf Spieler womöglich sogar noch etwas länger brauchen. Für ein Brettspiel ist das schon eine ziemlich extreme Spieldauer, einer gemütlichen Rollenspielsession an einem Samstagnachmittag entspricht das schon eher. Die Szenarien sind so aufgebaut, dass man sie fast komplett erkunden und ausreizen muss, um sie zu bewältigen. In jedem gibt es viel zu tun und das meist gegen ein eingebautes Zeitlimit, das etwa aus einem Kultistenritual oder einer randalierenden Dorfbevölkerung bestehen kann.

Da sich die Geschichte auch bei wiederholtem Spielen nicht ändert, sondern bloß kleine Details wie die Platzierung von Hinweisen variieren, könnte man denken, dass der Wiederspielwert beschränkt ist. Allerdings bleibt sich FFG auch bei „Villen des Wahnsinns“ seiner Linie im „Arkham Horror“-Universum treu und bietet beinharte Herausforderungen, die meist drei bis vier Anläufe brauchen, bevor man überhaupt herausgefunden hat, welche Aufgaben man in welcher Reihenfolge lösen muss, um überhaupt die Chance auf Sieg zu haben. Im ersten Durchlauf ist eigentlich nur das Einsteigerszenario zu schaffen und selbst da sollte man besser mit vier Ermittlern auftreten als mit zwei, denn das Spiel skaliert die Szenarien nur bedingt. Bei mehr Ermittlern mögen ein oder zwei Monster mehr auftauchen, aber die Fülle der Aufgaben und das Zeitlimit ändern sich nicht – und beides lässt sich mit größeren Gruppen deutlich besser bewältigen als mit kleineren, zumal sich auch die negativen Effekte der Mythosphase besser auf die Beteiligten verteilen. Diese Herausforderung ist einerseits typisch für kooperative Spiele, andererseits muss man als Spieler schon frustrationsresistent sein. Wem ständige Rückschläge und Gängeleien durch die App das Spielerleben verleiden, der sollte lieber die Finger von „Villen des Wahnsinns“ lassen.

Vier Szenarien sind der Grundbox von „Villen des Wahnsinns“ beigefügt. Vier Szenarien, das klingt jetzt erstmal wenig, vor allem für ein Spiel, das kaum unter 80 EUR im Handel zu finden ist. Aber wenn man wirklich jedes Szenario so oft spielt, bis es bewältigt wurde, wird man selbst an diesen vier Herausforderungen eine Weile sitzen (besonders an Szenario zwei und drei). Wer danach weiterspielen will, für den stehen zum Zeitpunkt der Rezension fünf weitere Szenarien zur Verfügung. Davon ist eines reiner Download Content und kostet 5 Euro. Die anderen erfordern Erweiterungsboxen, genau genommen „Wiederkehrende Albträume“ und „Unterdrückte Erinnerungen“ (je ein Szenario) sowie „Jenseits der Schwelle“ (2 Szenarien). Die beiden Erstgenannten bestehen dabei nur aus Spielplänen, Ermittlern und Monstern der Grundbox der ersten Edition sowie der damals „großen“ Erweiterungen „Verbotene Alchemie“ und „Ruf der Wildnis“. Wer diese bereits sein Eigen nennt, kann sich den Kauf sparen, denn der neuen Grundbox liegt netterweise ein kostenloses Konversionspack bei, sodass alles alte Spielmaterial ins neue System mitgenommen werden kann. Das schaltet dann auch sofort die zwei passenden Szenarien in der App frei. Für diese Entscheidung gebührt FFG ein ausdrückliches Lob!

Fazit: Wieder einmal zeigt Fantasy Flight Games, das sie im Bereich Genre-Brettspiele echt am Puls der Zeit liegen, ja sogar noch eine Vorreiterfunktion haben. „Villen des Wahnsinns – Zweite Edition“ überzeugt durch eine gelungene App-Integration und eine tolle Atmosphäre am Spieltisch. Wenn man diese Art von Spielen mag, die mit Szenarien arbeiten, herausfordernd schwer sind und eine starke Erzählkomponente haben, dann ist man hier genau richtig und wird mit einer beinahe rollenspielartigen Erfahrung belohnt. Witzigerweise kehrt der jüngste Spross der „Arkham Horror“-Brettspielfamilie damit fast wieder zu seinen Ursprüngen zurück, denn der Urahn „Arkham Horror“ wurde seinerzeit als taktisches Begleitbrettspiel zum Pen-&-Paper-Rollenspiel „Call of Cthulhu“ entwickelt. Und von „Villen des Wahnsinns“ zu „Call of Cthulhu“ ist es wirklich nur noch ein kleiner Schritt.


Villen des Wahnsinns – Zweite Edition
Brettspiel für 1 bis 5 Spieler ab 14 Jahren
Corey Konieczka, Nikki Valens
FFG/Heidelberger Spieleverlag 2016
ISBN: 4015566024045
Sprache: Deutsch
Preis: EUR 99,95

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