Spiegel

Cixin Liu hat sich längst seinen Platz in der modernen Science-Fiction erschrieben. Bekannt geworden durch die umfangreiche „Trisolaris“-Trilogie legt er mit „Spiegel“ den Beweis vor, dass er auch im Novellenformat zu faszinieren versteht.

von André Frenzer

Cixin Liu ist der erfolgreichste chinesische Science-Fiction-Autor. Er hat lange Zeit als Ingenieur in einem Kraftwerk gearbeitet, bevor er sich ganz seiner Schriftstellerkarriere widmen konnte. Seine Romane und Erzählungen wurden bereits viele Male mit dem chinesischen Galaxy Award prämiert. Cixin Lius Roman „Die drei Sonnen“ wurde 2015 als erster chinesischer Roman überhaupt mit dem Hugo Award ausgezeichnet und wird international als ein Meilenstein der Science-Fiction gefeiert. Zusammen mit den beiden Folgebänden „Der dunkle Wald“ und „Jenseits der Zeit“ wurde die „Trisolaris“-Trilogie als TV-Serie „3 Body Problem“ für Netflix verfilmt. Und auch weitere Adaptionen von Lius Werken, wie die vom Splitter-Verlag in Deutschland verlegte Graphic-Novel-Collection, sind beliebt.

In „Spiegel“ tritt Liu nun den Beweis an, dass er auch im komprimierten Format einer Novelle zu überzeugen weiß. „Spiegel“ spielt im China einer nahen – mittlerweile sehr nahen – Zukunft. Song Chen ist ein junger, ehrgeiziger Beamter, der in seiner Provinzstadt auf einen gewaltigen Korruptionsskandal stößt. Leider wird er von seinem besten Freund an den (in der gesamten Novelle namenlosen) Kommandanten verraten. Einige juristische Winkelzüge später findet sich Song Chen unversehens im Gefängnis wieder.

Dort erhält er bald Besuch von einem jungen Mann, der nicht nur eine Art Supercomputer im Gepäck hat. Stattdessen bringt er umfangreiches Wissen über Song Chens Lage vor und kann auch minutiös erklären, wie er hierher geraten ist. Tatsächlich weiß dieser geheimnisvolle Mann ALLES – was wiederum den Kommandanten auf den Plan ruft. Welches Geheimnis verbirgt der Fremde? Und welche Konsequenzen bringt es mit sich, wenn man schlicht alles weiß?

„Spiegel“ macht zwei Dinge, die ich von einer guten Science-Fiction-Geschichte erwarte, wirklich ganz hervorragend. Zunächst einmal wäre es das Einbinden von „Science“, also Wissenschaft. Was der geheimnisvolle Fremde Song Chen eröffnet, ist nicht nur nah an den heutigen technischen Möglichkeiten, sondern eine geschickte weitergedachte Variante der modernen Quantenphysik. Dazu gelingt es Cixin Liu, dieses doch äußerst komplexe Themenfeld so angenehm simpel herunterzubrechen und zu erklären, dass man der Geschichte mühelos folgen kann. Der zweite, in meinen Augen unerlässliche Bestandteil einer SF-Geschichte sollte die Frage nach den Auswirkungen sein. Welche Auswirkung hat die neueste Errungenschaft der Technik nicht nur auf den einzelnen Menschen, sondern vielleicht auf die ganze Gesellschaft oder darüber hinaus? Auch hier scheut „Spiegel“ nicht zurück und liefert hoch interessante Einblicke nicht nur in die Reaktionen der einzelnen Protagonisten der Geschichte, sondern auch weit darüber hinaus. Das fast schon fatalistische Ende passt zu der kurzen, prägnanten Geschichte, welche „Spiegel“ geworden ist.

Sprachlich ist „Spiegel“ angenehm und flott zu lesen. Trotz der recht komplexen Thesen und den vielen Anleihen an die aktuelle Struktur der Kommunistischen Partei in China, liest sich die Novelle rasch und unterhaltsam. Übersetzer Marc Hermann hat darüber hinaus noch einige hilfreiche Erklärungen von Fachbegriffen an die eigentliche Geschichte angefügt, sodass dem Lesevergnügen nichts im Weg steht. Der hier besprochenen Ausgabe wurde außerdem ein umfangreiches Nachwort von Redakteur und Lektor Sebastian Pirling spendiert, welcher auf das Werk Lius weiter eingeht. Leider ist dieser Teil des Büchleins derart mit Symbolismen, Verklausulierungen und komplexen Schachtelsätzen überhäuft, dass ich nicht nur regelmäßig den Faden verlor, sondern mich zugleich in die eigentliche Novelle zurückwünschte. Aber das schmälert die Qualität von „Spiegel“ schlussendlich nicht.

Fazit: „Spiegel“ ist eine hervorragende Novelle, welche alle wichtigen Zutaten einer modernen Science-Fiction-Geschichte mitbringt, sprachlich vollumfänglich überzeugt und darüber hinaus spannend geschrieben ist. Empfehlenswert für alle Freunde des Genres. Und auch wer einmal ein kurzes Werk sucht, um einen ersten Lesekontakt zu Cixin Liu zu finden, sollte auf jeden Fall einen Blick riskieren.

Spiegel
Science-Fiction-Novelle
Cixin Liu
Heyne 2017
ISBN: 978-3-453-31912-7
194 S., Taschenbuch, deutsch
Preis: 9,99 EUR

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