Shiver

Manchmal kommt der Grusel auf leisen Sohlen. Im Sammelband „Shiver“ des Mangaka Junji Ito schleicht er über jede Seite, die man aufschlägt. Obacht! Denn so eindrucksvoll, wie der Horror hier in den Alltag der Figuren eindringt, so macht er auch etwas mit den Leserinnen und Lesern. Zehn Kurzgeschichten, die den Schlaf rauben können.

von Daniel Pabst

„Shiver“ ist beim Carlsen Verlag – Carlsen Manga – im Jahre 2021 erschienen. Der Untertitel lautet: „Meisterhafte Horrorgeschichten“. Auf dem Cover ist neben Titel und Autor zunächst nichts weiter zu sehen. Blickt man genauer hin, so erkennt man in Grau gehüllte Gesichter und Wesen. Steckt der Schauer also im Verborgenen? Was, wenn er zum Vorschein kommt? In „Shiver“ scheint er auf insgesamt 400 Seiten hervor und präsentiert insgesamt zehn Kurzgeschichten, die je rund 30 Seiten umfassen. Am Ende jeder Geschichte, ist ein Kommentar des Autors abgedruckt worden, sowie eine Seite aus seinem originalen „Skizzenbuch“ mit deutscher Übersetzung. Junji Ito ist Japaner, geboren 1963 in der Präfektur Gifu im Zentrum der japanischen Hauptinsel Honshu. Bereits 1987 begann er sich im Horror-Genre zu etablieren. Damals erblickte „Tomie“ die Welt und ließ sie erschauern. Was bieten die hier abgedruckten Kurzgeschichten? Lohnt sich der Kauf?

Liest man das Inhaltsverzeichnis, so ist ausreichend Raum für eigene Assoziationen. Was könnte hinter den folgenden Titeln stecken? „Die gebrauchte Schallplatte“, „Shiver“ (deutsche Übersetzung: „Schauer“, und titelgebend für den Sammelband), „Das Model“, „Henkerballon“, „Das Marionettenhaus“, „Der Maler“, „Lange Träume“, „Die ehrenwerten Vorfahren“, „Glyzerid“ und „Das Model – Der verfluchte Bildrahmen“ (neue Short Story). Ob aus der Ich-Perspektive oder aus der Sicht eines (hilflosen) Publikums, Junji Ito versteht es jedes Mal, die Untiefen darzustellen, wodurch eine Sogwirkung entsteht, die erst endet, wenn man am Schluss jeder Geschichte am unteren Bildrand liest: „Ende“. Dieses kommt stets unerwartet, sodass sich die Gänsehaut häufig erst nach dem Lesen aufstellt. So sollte guter Horror sein. Darauf muss man sich aber einlassen können.

Die Kurzgeschichten sind allesamt in Manga-typischem Schwarz-Weiß gezeichnet. Vergleicht man diese Geschichten mit den bekannten „Gespenster-Geschichten“ aus dem Bastei-Verlag, die in bunt illustriert wurden, und trotz ihrer hohen Auflage einen gewissen Sammlerstatus erreicht haben, so fällt direkt auf, dass es bei Junji Ito keinerlei Farben bedarf. Gerade das Schwarz-Weiß lässt die Geschichten derart gut entfalten, dass sie noch beängstigender wirken. Das wird neben den Schatten immer dann besonders sichtbar, wenn das Blut statt in Rot, die weißen Seiten nahezu komplett geschwärzt hat. Auch das abrupte „Ende“ einer jeden Geschichte wirkt ganz anders und „erwachsener“ als ein: „Seltsam? Aber so steht es geschrieben“ der „Gespenster-Geschichten“.   

Welche Themen behandelt Junji Ito hier? Anstoß, so erfahren wir später in den Kommentaren, waren einzelne Bilder, die Junji Ito im Kopf hatte und aus denen er dann die Kurzgeschichten weitergesponnen hat. Zu Beginn ist es das Bild einer gebrauchten Jazz-Schallplatte. Deren aufgenommenes Lied und die „Scats“ darauf (eine spezielle Form des lautmalerischen Gesangs wie „Dabadabadaah oder „Lalalalalalala“) faszinieren, wäre da nicht die mysteriöse Entstehung des aufgenommenen Gesangs und dessen Wirkung! Daneben behandelt werden die Themen: (tropische) Krankheiten, Schönheit, Körperideale und der Modelberuf, Künstlerberufe, wie den des Puppenspielers oder Filmemachers, Wahn und Wirklichkeit, Perfektionismus, die Unsterblichkeit, Träume, Familientragödien, Doppelgänger, sowie – als vielleicht das schockierendste Thema – wie das zuvor gelebte Leben von einem zum anderen Tag völlig aus der Bahn gerät.

Dieser Sammelband überzeugt auf ganzer Linie. Die Fülle an Themen und die Zusammenstellung ist sehr gelungen. Auch der Preis ist angemessen gewählt worden. Durch die Kommentare des Autors öffnet sich mitunter ein anderer Blick auf die Geschichten. Dass sich der Autor am Ende einer Geschichte sogar rügt und eingesteht, dass er da gerade „hochkonzentrierten Ekel“ und „vermutlich eine Zumutung für meine Leser“ zu Papier gebracht hat, spricht für sich. Wie anders könnte eine Empfehlung für Horror und Schauer lauten?

Leseprobe

Fazit: „Shiver“ ist verstörend. Gleichzeitig ist es interessant, den Kern jeder Geschichte zu ergründen. Denn den wahren Horror lässt der Mangaka Junji Ito aus der Realität entstehen. Was sich daraus entspinnt, ist nicht leicht zu lesen – und vor allem anzuschauen. Zehn mal erschauern! Das kann jede und jeder mit „Shiver“. Entweder man liest die Geschichten an einem Abend hintereinander oder man liest die Geschichten in Portionen. Zu empfehlen wäre wohl eine Geschichte pro Tag. Ob man einen angenehmen Schlaf erwarten kann? Wer weiß …

Shiver
Manga
Junji Ito
Carlsen Manga 2021
ISBN: 978-3-551-75656-5
400 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 24,00

bei amazon.de bestellen