Tomie Deluxe

20 Geschichten über eine Horrorgestalt aus der Feder von Junji Ito. Ihr Name: Tomie. Ein weibliches Monstrum, vor dem es kein Entkommen gibt. In dieser Anthologie entsteht ein Mosaik des großen Schauderns. Junji Itos Einstieg in die Horrorwelt ist als deutsche Gesamtausgabe bei Carlsen Manga erschienen.

von Daniel Pabst

„Tomie Deluxe“ umfasst 754 Seiten! Als Hardcover-Ausgabe lässt sie sich nicht auf Dauer in den Händen halten, sodass eine feste Unterlage benötigt wird, bevor man diesen Manga aufschlägt. Das ist ungewöhnlich und passend zugleich. Denn ungewöhnlich sind auch die enthaltenen Geschichten. Insgesamt 20 an der Zahl werden präsentiert. Da es sich um eine Anthologie-Serie handelt, sind die Geschichten unabhängig voneinander zu lesen, wobei einzelne Szenen besser eingeordnet werden können, wenn man chronologisch vorgeht. Nach Junji Itos Werken „Uzumaki“, „Gyo“ und der Kurzgeschichtensammlung „Shiver“ setzt Carlsen Manga die deutsche Übersetzung auch im Jahre 2022 fort. Als Altersempfehlung steht auf dem Einband: ab 16 Jahren.

Eine Schönheit? Tomie hat langes schwarzes Haar, einen stechenden Blick, einen Schönheitsfleck unter dem linken Auge und eine ungeheuerliche Anziehungskraft. Dass ihre Geschichten erst jetzt in einer deutschen Gesamtausgabe erscheinen, mag überraschen. Vielleicht denken manche bei ihrem Namen zuerst an den japanischen Film von 1999, oder die gleichnamige Serie von 2018, bevor sie an einen Manga denken. Der Grundstein wurde allerdings vor 35 Jahren gelegt. Im Jahre 1987 schockierte Tomie das erste Mal und sorgte dafür, dass Junji Itos Karriere im Horrorgenre begann. Ausgezeichnet wurde er für seine Geschichte mit dem „Umezu-Preis“. Aus Tomie wurde eine Serie im „Monthly Halloween-Magazine“, die bis zum Jahr 2000 lief.

Was erwartet uns? Tomie wird uns abwechselnd als Baby, Schulmädchen, junge Frau und „Mutter“ gezeigt. Ihre äußeren Reize führen von einer Katastrophe in die nächste. Brutal und der Altersempfehlung entsprechend wird seitenweise zu sehen sein, wie die männlichen Figuren bis zum Äußersten gehen, um Tomie für sich zu gewinnen, ohne zu wissen, dass sie nur sich selbst liebt. Denn Tomie möchte begehrt werden und sehen, wie weit sie bei Männern gehen kann; nicht weil sie ihre Liebe will, sondern zur Steigerung ihres Egos. Das wird Leserinnen und Lesern der Kurzgeschichte „Der Maler“ aus der Sammlung „Shiver“ bekannt vorkommen. Diese Geschichte handelte von Tomie und findet sich als eine der 20 Geschichten in „Tomie Deluxe“ wieder.

Die Art und Weise von Tomies Ermordung und Unsterblichkeit zieht sich wie ein roter Faden durch „Tomie Deluxe“. Sie formt sich und ihre Haut immer wieder neu. Dafür wählte Junji Ito Wege, die dem Body-Horror (auf Deutsch: Körperhorror) zuzuordnen sind. Als Beispiel hierfür dient eine Geschichte, in der Tomies Kopf abgetrennt wird, dieser weiter spricht, und anschließend aus dem Blut auf dem Teppich eine neue Tomie herauswächst, sowie eine andere Geschichte, in der ihre Niere einer anderen Patientin eingepflanzt wird, diese nicht genest, sondern aus deren Körper embryoartig eine neue Tomie heranwächst und herausschreit: „Hallo … Ich bin Tomie!“.

Body-Horror im Filmformat kennt man durch die berühmten Vertreter David Cronenberg, David Lynch oder den Schöpfer des Animes „Akira“ Katsuhiro Otomo. Im Falle des japanischen Horrors begnügt sich Junji Ito, wie in den Beispielen angedeutet, bei den körperlichen Metamorphosen, Deformationen und Verstümmelungen nicht mit Andeutungen, sondern reizt das Spektrum um Tomies Körper derart aus, dass es Ekel hervorruft. Als wiederkehrendes Motiv dieses Horrors sehen wir zudem die verstörten Gesichter ihrer Opfer. An manchen Stellen lässt der Mangaka die klare Grenze zwischen Opfer und Täter – beziehungsweise Täterin – bewusst verschwimmen und man möchte mehr über Tomies Gefühle wissen. Obwohl, möchte man das wirklich?

Bei der Fülle an 20 Geschichten über Tomie, findet man verschiedene Aspekte, wie man Tomie widerstehen könnte. Auch erfahren wir, warum sie keine Fotos von sich mag (was beim deutlichen Ansehen des dunklen Covers des Manga-Bandes zu erahnen ist). Woher Tomie stammt und wieso ihr Körper sich stets regenerieren kann, bleibt bis zuletzt nicht geklärt. Dient sie gar als abstrakte Symbolfigur für menschliche Beziehungen? Beispiele für toxische Beziehungen bekommt man hier jedenfalls zur Genüge vorgeführt.

Kurz fragt man sich, ob man es vielleicht mit einer modernen Version Frankensteins zu tun haben könnte, und der Frage, ob ein Wissenschaftler gottgleich über Leben und Tod entscheiden darf. Jedoch ist der Horror in der Gesamtschau der Tomie-Geschichten eher beschränkt auf das zu Sehende, als dass er sich tieferen Fragen widmet. So bleibt es – mit wenigen Ausnahmen – recht plakativ, was Junji Ito in „Tomie Deluxe“ zeichnete und was wir von Tomie und ihren Mitmenschen halten sollen. Dass sich die frohe Botschaft, eines von den Toten auferstandenen Mädchens, in ihr Gegenteil verkehrt und dass dieses fortan mordend umherzieht, reicht allemal aus, um einen zu schocken, lässt aber kein Meisterwerk entstehen.

Leseprobe

Fazit: Dass die Leserinnen und Leser am Ende dieses gigantischen Anthologie-Werkes ähnlich „tomisiert“ zurückbleiben werden wie die Weggefährten und Weggefährtinnen Tomies, ist nicht zu hoffen. Dass die Geschichten aber ein Unwohlsein erzeugen, ist stark anzunehmen. Wie man es auch dreht und wendet, die bizarre Figur der Tomie wird im Gedächtnis bleiben. Auch das Handeln der Männer und Frauen, die es mit ihr zu tun bekommen, ist zum Fürchten. Ob es dazu 20 Geschichten benötigt hätte, ist Ansichtssache. Wer den Stil Junji Itos kennenlernen möchte, der greift besser erst einmal zur Schauergeschichten-Sammlung „Shiver“.

Tomie Deluxe
Manga
Junji Ito
Carlsen Manga 2022
ISBN: 978-3-551-77909-0
754 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 34,00

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