Remina

„Der ganze Himmel bewegt sich!“, heißt es in diesem neuen Junji-Ito-Horror-Manga mit dem Titel „Remina“. Es ist ein Ausflug in die Welt der Wissenschaften, der Sozialkritik, der Massenpsychologie und der Gefühle. Gelingt Junji Ito dieser gewagte Spagat? Werden die Menschen der Naturgewalt trotzen? Wer ist „Remina“?

von Daniel Pabst

Der neueste Junji-Ito-Manga, der bei Carlsen-Manga erschienen ist, heißt „Remina“ und ist mit 256 Seiten ein vergleichsweise kurzer Band. Von der Aufmachung als Hardcover-Band reiht sich „Remina“ sehr gut in die große Horror-Reihe von Carlsen Manga ein – die seit „Uzumaki“ (deutsche Ausgabe von 2019) immer weiter anwächst. Schon jetzt darf angekündigt werden: Diese Carlsen-Reihe ist noch längst nicht abgeschlossen!

Wie von den anderen Junji-Ito-Werken gewohnt, erzählt auch „Remina“ eine in sich abgeschlossene Geschichte. Welche schaurige Welt lässt Japans „Horror-König“ dieses Mal entstehen? Wie weit ist die Geschichte von der Realität entfernt? Was hat es mit den Naturgewalten auf sich, die der Autor und Zeichner hier eingebaut hat?

Eins nach dem anderen: Gleich zu Beginn von „Remina“ geht es horrormäßig zu. Wir sehen eine junge Frau mit langen schwarzen Haaren und einer Perlenkette am Hals, die wie Jesus am Kreuz hängt. Dazu lesen wir, wie eine wütende Menschenmenge lautstark schreit: „Tötet sie! Tötet sie! Tötet sie! Tötet sie!“ Der Monat, in dem dieses wahnsinnige Ereignis stattfinden soll, ist – so schreibt es Junji Ito – der „Juli im Jahr 20XX“.

„Die Menschheit blickt ihrem Untergang entgegen“. Wie kam es dazu, dass die Menschen eine „Kreuzigung“ befürworten und auch durchführen? Um das zu erfahren, macht der Manga einen Zeitsprung in die Vergangenheit. Genauer gesagt: ein Jahr zurück. Denn da entdeckte der Nobelpreisträger Herr Oguro mit seinem Superteleskop einen fremden Planeten, der durch ein Wurmloch in unser Universum „eingelassen“ worden sein soll …

Wie schon Antoine de Saint-Exupéry in seinem Werk „Der kleine Prinz“ (1943) schrieb: „Ich wußte ja, daß es außer den großen Planeten wie der Erde, dem Jupiter, dem Mars, der Venus, denen man Namen gegeben hat, noch Hunderte von anderen gibt, die manchmal so klein sind, daß man Mühe hat, sie im Fernrohr zu sehen“ (Karl Rauch Verlag, 50. Auflage, 1995, Kapitel IV.). Hier muss Herr Oguro seiner Entdeckung einen Namen geben – fehlt es andernfalls an der „Legitimation“, dass es diesen Planeten auch wirklich gibt.

Der Planet wird „Remina“ getauft – der Name von Herrn Oguros Tochter. Diese spontane Eingebung ändert das Leben der jungen Tochter. Ihr Alltag dreht sich um 360 Grad! Aus der schüchternen jungen Remina wird die „Namenspatronin“, die einen eigenen Fanclub erhält und plötzlich im Rampenlicht der Aufmerksamkeit steht. Dass der mediale Fokus auf Reminas Aussehen liegt („Wie schön sie ist“), lässt hinterfragen, wie oberflächlich so manche Berichterstattung (insbesondere von Frauen) ist und was das mit den Betroffenen macht?

Junji Ito vermischt hier verschiedenste Motive und Kritiken. Die Personalisierung des neuen Planeten driftet zunehmend in den Horror ab. Denn was anfangs niemand wusste: Der Planet rast mit einer unaufhaltsamen annähernden Lichtgeschwindigkeit auf die Erde zu! „Don’t Look Up!“ (Regie: Adam McKay, mit Jennifer Lawrence und Leonardo DiCaprio in den Hauptrollen, Netflix 2021) mag man meinen! Als diese Nachricht in der Öffentlichkeit angekommen ist, wandelt sich die Sympathie (die bei manchen zu einer göttlichen Verehrung geworden ist) gegenüber Remina hin zu einer Hetzjagd.

Diese rasante Wandlung von einer „Göttin“ zu einer „Hexe“, die an ein Kreuz gehört – allein im Fehlglaube, dass so der heranrasende Planet und damit die Apokalypse aufgehalten werden könnte – ist absoluter Horror. Junji Ito kritisiert damit nicht nur die Ambivalenz der Menschen und die stetige Suche nach „Schuldigen“, sondern auch die Berichterstattung, die dem nicht entgegenwirkt. In diesem Manga heizt der japanische TV-Sender die Masse auf und wird sogar von einer fanatischen Organisation übernommen.

Nach dieser kurzen Einleitung eskaliert Junji Itos Geschichte. Der Anführer der fanatischen Organisation trägt einen schwarzen Anzug und eine nach oben spitz zulaufende Kapuze. Dieser lässt verlauten: „Daher rufe ich alle Menschen auf, die beiden zu suchen! Remina Oguro ist die Personifizierung des Höllenplaneten! Nur wenn sie stirbt, stirbt auch er, und unsere Erde bleibt erhalten!“ Gibt es kein Korrektiv mehr? Wie leicht lässt sich die Zuhörerschaft beeinflussen? Gibt es niemanden, der diesen „Albtraum“ aufhalten wird?

Junji Ito belässt die Geschichte aber nicht an dieser Stelle, sondern treibt den Horror weitaus weiter. Er lässt uns sehen, wie die „Elite“ Japans sich abkanzelt und Pläne verfasst, die Erde aufzugeben. Dass das den Unmut der Bevölkerung nicht abkühlen lässt, sondern wie das „Öl ins Feuer gießen“ wirkt, ist selbstredend. Kaum noch einer zweifelt an der Kausalität. So folgen wir in diesem Manga dem nicht aufhörenden Horror und müssen mitansehen, wie Remina zunehmend in die Enge getrieben wird und ihre Schönheit – sinnbildlich – zerbricht.

Wie das Ganze endet, wird natürlich nicht verraten. Wer Junji Ito kennt, der weiß, dass die Möglichkeiten unbegrenzt sein werden. Das ist vielleicht auch das Einzigartige an diesem Horror. Nie fühlt man sich beim Lesen sicher. Nie weiß man, welche schauerliche – mitunter kuriose – Zeichnung auf der nächsten Seite lauert. Fragt sich allein, ob dieser Manga als Einstieg in die Welt von Junji Ito geeignet ist?

Die Zeichnungen sind sehr gelungen. Auch die Zusammenstellung ist durchdacht. So gibt es viele Momente, in denen man beim Umblättern bewusst à la „Jump-Scare“ geschockt wird. Typisch für Junji Ito sind die Gesichter der Charaktere aufwendig gezeichnet. Hier spielen die Augen eine besondere Rolle und transportierten den Wahnsinn, den Schock, die Wut, die Panik, die Trauer, aber auch die Entschlossenheit (und vieles vieles mehr).

„Remina“ ist ein Manga, der weitaus psychologischer geprägt ist, als es bei anderen Werken von Junji Ito der Fall ist. Der typische Wechsel von einem alltäglichen Erlebnis hin zu einem real werdenden Horror-Ereignis, ist hier so schlagartig, dass es nur wenig mit der Realität zu tun hat. Wenn Kreuze in den Straßen Tokios errichtet werden und eine mittelalterliche „Hexenjagd“ organisiert wird, ist das als Warnung sowie unverblümte Kritik Junji Itos an die Leserschaft zu verstehen. „Remina“ als Einstiegswerk in die Welt von Junji Ito zu lesen, scheint daher nicht angebracht, da es in Teilen überfordert und nicht immer verständlich ist.   

Leseprobe

Fazit: „Remina“ wirkt trotz der Absurdität nach. Wer einen „typischen“ Junji Ito sucht, der greife zu „Uzumaki“, „Gyo“ oder dem Kurzgeschichtenband „Shiver“. Wer sehen will, wie Junji Ito einen Klassiker interpretiert, der nehme sich Junji Itos „Frankenstein“ zur Hand. Und wer etwas Kritischeres sucht, das Fragen aufwirft, der wage sich an „Remina“. Wo beginnt der Horror und wo endet er? Hat es womöglich etwas damit zu tun, dass „Remina“ fast so geschrieben wird wie "Remind" - also das englische Wort für "erinnern"? Wenn das der Fall sein sollte, so braucht es ein besseres Gedächtnis. Ein Gedächtnis, das daran erinnert, dass es keine „Sündenböcke“ gibt.  

Remina
Manga
Junji Ito
Carlsen Manga 2023
ISBN: 978-3-551-71488-6
256 S., Hardcover, deutsch
Preis: 18,00 EUR

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