Frankenstein

Wohin können uns die eigenen Gedanken führen? Wie unterscheiden sich geniale Erfindungen und irrwitzige Visionen? Junji Ito lotet in seinem jüngst bei Carlsen Manga erschienen Band aus, was Wahn und was Wirklichkeit sein mag. Neben eigenen Kreationen adaptiert er diesmal „Frankenstein“ von Mary Shelley.

von Daniel Pabst

Wer die Manga-Veröffentlichungen des Carlsen Verlags seit dem Jahre 2019 verfolgt, der ist möglicherweise mit dem Namen des Mangaka Junji Ito in Berührung gekommen. Junji Ito ist ein Horror-Mangaka, der es immer wieder aufs Neue schafft, mit seinen Zeichnungen und Texten zu gruseln und zu schockieren. Auch dieser neueste Hardcover-Band ist im Stil und Design der Vorgänger erschienen und reiht sich somit sehr schön ins Regal ein. Erstaunt liest sich diesmal der Titel. Dort lesen wir keinen geringeren Namen als: „Frankenstein“!

Die Titelgebung wird damit begründet, dass Junji Ito den Roman von Mary Shelley aus dem Jahre 1818 „Frankenstein or The Modern Prometheues“ adaptiert hat. Auf 184 Seiten lässt er das geschriebene Wort von Shelley lebendig werden. Umrahmt wird dies von Itos Geschichten „Oshikiri-Zyklus“ (192 Seiten), „Das Begräbnis der Höllenpuppen“ (6 Seiten), „Das fixierte Gesicht“ (8 Seiten) und „Hundetagebuch“ (4 Seiten).

Bevor es an die vielversprechende Lektüre von „Frankenstein“ geht, blicken die Lesenden auf einen Jungen mit stechend weiß-leuchtenden Augen. Die eine Hand lässig in der Hosentasche und mit der anderen Hand einen Holzspaten haltend. Was er umgegraben hat? Das ist der Beginn des „Oshikiri-Zyklus“, den Ito in einzelnen Episoden zuvor im „Monthly Halloween Magazine“ („Gekkan Halloween“) veröffentlichte und der bereits 1997 als Sammelband („Halluzinationen“) erschien. Erst nach diesen Geschichten geht es mit „Frankenstein“ los.

Was wie eine „Vorgruppe“ eines langersehnten Konzerts klingen könnte, entwickelt sich zu mehr als das. Der „Oshikiri-Zyklus“ ist geheimnisvoll und mit reichlich Schock-Effekten garniert worden. Der Junge namens Oshikiri wohnt alleine in einem riesigen Haus, da seine Eltern ständig auf Geschäftsreisen sind. Mit sich, den Türen, Wänden, Fenstern und der Stille alleingelassen, sensibilisieren sich seine Sinne. Was ist real und was ist Einbildung? Oshikiri sucht Rat bei Freunden, die bei ihm Übernachten, um die Geräusche zu lokalisieren. Warum nur gräbt eine Gestalt im Garten des Nachts Löcher, die Platz genug für menschliche Körper haben?

Wieder einmal hat es Junji Ito mit dem „Oshikiri-Zyklus“ geschafft, aus einer schier harmlosen, beinahe idyllischen, eigentlich traumhaften Vorstellung heraus – ein Haus für sich alleine zu haben – mit einem Mal den Abgrund aufklappen zu lassen und uns hinein stürzen zu lassen. Auch ist hier ein Schreckensszenario aus dem japanischen Alltag in Form von Erdbeben eingeflossen. Insgesamt enthält der „Oshikiri-Zyklus“ sechs Geschichten, die man gut und gerne mit etwas Abstand liest. Aber auch direkt am Stück gelesen, verlieren sie kaum an ihrer Stärke. Zu spontan tritt der „Body Horror“ auf. Von diesem gibt es übrigens reichlich. Heftig!

Einen richtigen Cut bildet die Seite 196 des Manga-Bandes. Wir sehen einen Mann, der in einer regnerischen Nacht in seinen düsteren, karg eingerichteten, angemieteten Räumlichkeiten mit sich selbst spricht und fieberhaft an einer Maschine hantiert. „Heute Nacht werde ich zu Gott!“ lesen wir, und im nächsten Moment öffnet ein Geschöpf ein Auge. Sogleich wechselt der Ort des Geschehens. Auf geht es zum Nordpol …

Wie bestimmt schon vermutet, sind wir mittendrin in Mary Shelleys Roman – beziehungsweise in den Zeichnungen von Junji Ito. Dem Mangaka gelingt es dabei, recht werkgetreu und gleichzeitig im eigenen Stile den berühmten Schauerroman zu zeichnen. Auch wenn eine schier endlose Anzahl an Adaptionen existiert, so ist diese Version nicht überflüssig. Ganz im Gegenteil: Es macht Spaß, Itos Interpretation der Charaktere, ihrer Emotionen und der Landschaften zu betrachten – und vor allem welche Änderungen er vorgenommen hat.

Victor Frankensteins „vollendete Schöpfung“ liegt – wie eine Mumie in Bänder eingewickelt und umgeben von Flüssigkeiten – auf dem Boden. Dadurch, dass diese Szene eine Seite einnimmt, wird der Größenunterschied besonders deutlich. Dabei kommt Junji Itos Interpretation zu Gute, dass ein Manga in Schwarz-Weiß abgedruckt wird und die weißen Bänder des „Geborenen“ sich somit von dem schwarzen Tier- und Menschenblut sowie dem schwarzen Untergrund abheben. Wenn wir dazu lesen: „Geschafft!“, ist das trügerisch – wissen wir doch, was folgen wird, welches Leid zu Tage treten wird und welche Opfer der einmalige Fehltritt fordern wird.

Den Abschluss dieses Manga-Bandes machen die Kurzgeschichten. Insgesamt sehr gut ist, dass Carlsen Manga sich bei der Anordnung der in diesem Band enthaltenen Geschichten einen angenehm zu lesenden und auch spannungsgeladenen Aufbau überlegt hat. Am Ende der Kurzgeschichten „Das Begräbnis der Höllenpuppen“ und „Das fixierte Gesicht“ wird dieser Band mit einem deutlich erhöhten Pulsschlag ins Regal gestellt werden.

Leseprobe

Fazit: „Frankenstein“ ist und bleibt ein Roman, der zu lesen ist. Der Mangaka Junji Ito hat das eindrucksvoll in Szene gesetzt und die Bedeutung von Mary Shelley ins Gedächtnis gerufen. Die Kombination ihres Werks mit Itos wahnhaften Geschichten des „Oshikiri-Zyklus“ ist besonders intensiv. Geht es einmal um einen jungen Mann, der sich zum Schöpfer aufschwingt, der die Verantwortung scheut, vor sich selbst davonläuft, und ein anderes Mal geht es um einen Jungen, der sich mutig dem Übernatürlichen stellt, aber dabei einsehen muss, dass der menschliche Verstand nicht alles auszuhalten vermag. Was die Protagonisten verzweifeln lässt, regt die Lesenden zum Nachdenken an, da das einmal Gelesene Spuren in der Realität hinterlässt. Oder etwa nicht?

Frankenstein
Manga
Junji Ito
Carlsen Manga 2023
ISBN: 978-3-551-79267-9
418 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 24,00

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