Tomb Town

Junji Itos Kurzgeschichten bieten Anlass zur Diskussion. Der japanische Mangaka ist berühmt für seine Kunst, bereits auf wenigen Seiten Geschichten zu entfalten, die mehr sind als nur „Schocker“ und „Horror“. Was steckt dahinter? Wie empfehlenswert ist dieser neueste Band von Carlsen Manga mit dem Titel „Tomb Town“?

von Daniel Pabst

„Tomb Town“ ist der aktuelle Horror-Manga in der Junji-Ito-Reihe von Carlsen Manga. Wieder einmal ist die Gestaltung und die Form eines Hardcovers gut gewählt worden und reiht sich damit nahtlos in die vorhandenen Einzelbände von Carlsen Manga ein. In „Tomb Town“ erkundet Junji Ito in insgesamt elf Kurzgeschichten die Abgründe der menschlichen Psyche und untermalt seine Gedanken mit schreckenerregenden Zeichnungen.

Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis lässt erahnen, worum es diesmal gehen könnte. Da stehen die folgenden Titel: „Tomb Town“, „Haus der Feindschaft“, „Schneckenmädchen“, „Das Fenster gegenüber“, „Strandgut“, „Die ehrenwerten Vorfahren“, „Lange Träume“, „Eine Tunnelgeschichte“, „Bronzestatuen“, „Pompons“ und „Das Blut von Shirasunamura“. Zwei dieser Kurzgeschichten kommen dem ein oder der anderen bekannt vor, denn „Die ehrenwerten Vorfahren“ sowie „Lange Träume“ befanden sich schon im Kurzgeschichtenband „Shiver“ (2021). Ansonsten aber kennt man diese Geschichten noch nicht. Wie gut sind sie?
 
Die erste Geschichte ist gespenstisch und entführt die Lesenden direkt in die Welt jenseits der Vorstellungskraft. Eine Freundin lädt die andere Freundin ein, sie zu besuchen. Um zu dem abgelegenen Ort zu kommen, bietet ihr Bruder an, sie zu fahren, da er erst kürzlich den Führerschein gemacht hat. Auf dem Weg dahin kommt es zu einer alles entscheidenden Sekunde der Unaufmerksamkeit! Im Fortgang der Geschichte wird die Frage der Schuld verhandelt. Schockierenderweise lautet der Ort „Tomb Town“ – eine Stadt, in der Grabsteine stehen …

In den weiteren Geschichten verbaut der japanische Horror-Meister Junji Ito viele seiner bekannten Bilder und Themen. Seine Herangehensweise zeichnet sich dadurch aus, dass sie das Realistische ins Geisterhafte abgleiten lässt und auf schockierende Weise miteinander verwebt – stets mit dem Augenmerk auf die (Ur-)Ängste. Dabei begegnen die Figuren allerlei abscheulichen Mischwesen, Geistern und Verbrechern.

Die Verbindung zwischen dem friedlichen Alltag mit der Gewalt, welche urplötzlich Eingang in die Welt findet, lässt einen erschaudern. Hinter jeder Ecke (beziehungsweise Seite) wartet das Entsetzliche auf uns. Wir lernen: Das Wegsehen oder Verdrängen hat gravierende Folgen! Denn viele dieser Geschichten hätten einen anderen Ausgang nehmen können, wenn einzelne Akteure frühzeitig eine andere Entscheidung getroffen hätten …

Bei den elf Geschichten von sehr unterschiedlichen Seitenzahlen (16 bis 60 Seiten) gibt es allerhand Momente, in denen man Gänsehaut bekommt. Die Zeichnungen enthalten teilweise den – für Junji Ito sehr typischen – Body Horror. Dennoch erhält man nicht den Eindruck, dass diese einzig und allein dazu gewählt worden sind, um zu schockieren. Vielmehr stecken in ihnen Sinnfragen und Warnungen an die Leserinnen und Leser.
 
„Tomb Town“ ist damit eine Kurzgeschichtensammlung, die einen bunten Strauß an Themen behandelt: Schuld und Unschuld, Freundschaft, Zwang, Gewissenskonflikte, Einsamkeit, Erwachsenwerden, Erziehung, Verlust, Tod und Abschiednehmen, Wahnsinn, das ewige Leben, (Alb-)Träume, Übernatürliches, Selbstmord, Schönheit, Altern, Liebe, Ängste, Mobbing, Gruppendynamik, Selbstlosigkeit und Gerechtigkeit. Am besten liest man ein bis zwei Geschichten, klappt den Manga dann zu und macht sich seine eigenen Gedanken dazu, ehe man wieder eine neue Geschichte liest. So begleiten einen Junji Itos Gedanken eine Weile und lassen sich verarbeiten.

Dem Kurzgeschichtenband „Shiver“ von 2021 steht „Tomb Town“ in nichts nach. Diejenigen, die also bereits „Shiver“ gelesen haben, können getrost zu diesem Band greifen (auch wenn zwei Geschichten doppelt abgedruckt wurden). Alle, die bisher noch keine Berührungspunkte zu Junji Ito hatten, können sich zwischen „Shiver“ und „Tomb Town“ entscheiden. Beide unterscheiden sich kaum vom Preis sowie der Seitenanzahl und bieten damit einen vortrefflichen Einstieg in die Welt von Junji Ito. Vorab sollte man einen „Blick ins Buch“ auf der Homepage des Carlsen Verlags werfen. Denn die dort präsentierte Leseprobe enthält die erste Geschichte von „Tomb Town“. Bist du diesem Horror auch gewachsen?

Leseprobe

Fazit: Erneut hat es sich gelohnt, dass Carlsen Manga Kurzgeschichten von Junji Ito übersetzt hat. Das Gebotene ist keine leichte Kost und ist gerade deswegen geeignet, sich Fragen zu stellen, auf die man so nicht gekommen wäre. Ob es für die Figuren in den Geschichten eine Rettung geben wird? Zum Glück ist das Ganze ja nur gezeichnet! Dass die Themen dahinter aber mitunter gar nicht so realitätsfern sind, wie man es sich wünschen würde, macht den Grusel umso stärker. Eine insgesamt erschreckende und empfehlenswerte Sammlung.

Tomb Town
Manga
Junji Ito
Carlsen Manga 2023
ISBN: 978-3-551-71487-9
418 S., Hardcover, deutsch
Preis: 25,00 EUR

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