Piraten-Nationen

„7te See“ ohne Piraten wäre wie „Der Herr der Ringe“ ohne Sauron. Zeit ist’s also, dass das Team rund um Macher John Wick das mehr als 200 Seiten dicke Werk um das Freibeutertum auf den Sieben Meeren rausrückt. Fernab vom Kontinent Théah schaukeln die Schaluppen unter schwarzer Flagge im Atabischen Meer, kreuzen vor La Bucca oder nehmen Kurs auf Numa. Doch das Piratenleben bietet viel mehr, als nur Schiffe versenken ...

von Karl-Georg Müller

Zwei breit gefächerte Kapitel prägen das Quellenbuch „Piraten-Nationen“: „Wir lagen vor Aragosta“ umfasst sechs neue Länder und Regionen, und dies weit über das genannte Aragosta hinaus, denn daneben dominieren Numa, La Bucca, das Atabische Meer und Jaragua den rund Dreiviertel vom Umfang einnehmenden Textabschnitt – neben einem gesonderten Baustein zur wichtigen Atabischen Handelskompanie. Die letzten gut 50 Seiten widmen sich dem Piratenleben in allen Facetten und mit den fürs Rollenspiel wichtigen Fakten und Vorgaben.

Numa liegt südlich und östlich des Sarmatischen Bundes und gilt als die Wiege der Zivilisation; Religion spielt eine wichtige Rolle, demzufolge werden Göttern, wie der Göttervater Zendio, und ihre Relevanz für die Welt näher beleuchtet. Wichtig ist auch, dass die Numanari-Inseln von einer ganzen Zahl an Monarchen regiert werden – die verschiedenen Stadtstaaten und ihre Animositäten gegeneinander bieten natürlich den Zündstoff, von dem wahre Helden träumen. Einige bekannte Numanarier werden in ein paar Absätzen vorgestellt. Leider wird aber hierbei – wie bei manchen anderen möglichen Widersachern oder Verbündeten unter den Nichtspieler-Charakteren – nicht deren Bedeutung „im Spiel“ umrissen.

Eine Landkarte – die auf den letzten Seiten des Quellenbuchs nochmals in einem größeren Format wiedergegeben wird – veranschaulicht die Orte. Detaillierte Karten wie diese stehen übrigens zu allen vorgestellten Regionen zur Verfügung und stellen für mich eine große Hilfe dar, um Städte und die vielen kleinen Inseln zu verorten.

Mit La Bucca begeben wir uns auf eine frühere Gefängnisinsel, die von Kardinal Ordunez dereinst entdeckt wurde. Nebenher fand er ein Artefakt der untergegangenen syrnethischen Zivilisation, mit dessen Hilfe er eines dieser schrecklichen Meeresungeheuer beherrschen konnte. Meeresungeheuer spielen überhaupt eine große Rolle in „Piraten-Nationen“, sind sie ja auch quasi das Salz in der Suppe, wenn es um Abenteuer auf hoher See geht.

In eingeschobenen Textkästen lesen wir zusätzliche Informationen wie die zu den Sirenen (die wirklich existieren, doch anders, als die Spieler vielleicht erwarten) oder zu Signalen, mit denen sich die Einheimischen verständigen. Dazu informieren ausreichend umfangreiche Abschnitte beispielsweise über das Leben auf der Insel und die fünf Chapter, aus denen sich die Regierung zusammensetzt und mit denen sich Helden auf die eine oder andere Weise, aber nicht selten sicher unerfreulich, konfrontiert sehen.

Besonders bei La Bucca sehen wir, wie schlüssig sowohl die Entwicklung der Insel, als auch die Benennung der drei verbundenen Landmassen – denn im Grunde ist La Bucca ein riesiges S, das bei Hochwasser nicht durchgängig miteinander verbunden ist – gelingt: die Krone, Sunrise Haven und Sunset Haven, die Jakobsleiter, bei der einzelne Seilbrücken die Südinsel mit dem übrigen Inselreich verbinden.

La Bucca bietet etliche wichtige Persönlichkeiten auf, die hier auch mit Vorschlägen aufwarten, wie sie im Spiel auftreten können – das ist besonders hilfreich wie im Falle von Uwe und Greta Lehmann, die sich oft in der Spielhölle Le Gros Vert herumtreiben und geradezu darauf warten, dass ihnen die Helden in die Arme laufen.

Gerade diese Ideenschnipsel, die wir bei den Örtlichkeiten oder Persönlichkeiten entdecken, bieten genau die richtigen Impulse, um diese aufzugreifen und weiterzuspinnen. Daraus eben eigene Abenteuer zu erarbeiten.

Das Hauptaugenmerk von „Die Piraten-Nationen“ aber richtet sich auf das Atabische Meer einschließlich Aragosta, dem Stützpunkt der Piraten, und Jaragua. Natürlich versetzen uns die Autoren mitten hinein in die Karibik, und wenn all die irdischen Vorbilder greifbar werden oder sich vor unseren inneren Augen abbilden, dann ganz sicher hier bei dieser Inselkette.

Was in diesen Kapiteln an Detailwissen vermittelt wird, lässt sich im Rahmen einer Besprechung gar nicht darstellen. Schon die bunte Landkarte lässt erahnen, wie unübersichtlich die politische Situation ist: Farbig voneinander abgesetzt sind die vier Kolonialmächte, hinzukommen die einheimischen Rahuri und andere wie die Atabische Handelskompanie.

Weshalb diese Gemengelage aus höchst unterschiedlichen Nationen und Vereinigungen? Gier beschreibt es wohl mit einem Wort. Gier nach Gold (sprich: Ressourcen), Gier nach Macht. Die Théaner schickten Schiffe übers Meer, quasi ein Wettrennen um die besten Pfründe setzte ein, unter dem die Rahuri natürlich litten. Klingt alles sehr irdisch und bekannt? Ja, und das ist gut so, denn wie bei Théah selbst erleichtert dies die Identifikation mit den Gegebenheiten, das Wiedererkennen von halbwegs Bekanntem, das Eintauchen in eine Welt, die gleichzeitig fremdartig und doch geläufig ist. Die Rahuri stammen ursprünglich vom aztlanischen Festland, bevor sie sich auf den Inseln niederlassen. Die Ankunft der Schiffe aus dem Osten brachte das Gefüge durcheinander, viel mehr noch, als die Kompanie Sklaven vom südlichen Kontinent Ifri verbrachte.

Wen wundert es dabei, dass Sklavenaufstände das Inseldasein überschatten und Geheimgesellschaften – einigen von diesen spezifisch auf die Inselreiche zugeschnitten, andere wohlbekannt aus dem Grundregelwerk – im Zwielicht der Spelunken und Kaschemmen aufblühen.

Zu den besonders auffälligen Gestalten gehört William Stroud, das Rote Gespenst, mit seinem Schiff Red Ghost, der als williger Gefolgsmann der Flotte von Kapitän Reise unter der roten Totenkopfflagge segelt. Furchterregende Figuren, denen die Helden über kurz oder lang begegnen werden. Eine Schippe drauf an Grausamkeit legt dann noch Devil Jonah mit seinem Schwarzen Schiff, dem nicht wenige für ein spezielles Geschenk ein Körperteil opfern.

Die bunte Mischung macht’s, denn neben den Rahuri, die für mich als Sympathieträger gelten können, und den Piraten, die jenseits des edlen Schurken echte Halsabschneider sind, mischt noch die arg gemeine Atabische Handelskompanie mit, eine auf Gewinnmaximierung getrimmte „feine“ Gesellschaft, die über Leichen geht – und darüber vermutlich noch akribisch Buch führt. Zu Fort Freedom finden wir dann noch die einzige Skizze im Buch, eine moderne Befestigungsanlage, an der sich Piraten erfolgreich die Zähne ausbeißen dürften.

Überhaupt sollten die Helden sich auf einiges gefasst machen, auch wenn die Liste an Seemonstern eher überschaubar ist. Neben mehr traditionellen Wasserwesen wie Kraken oder Seeschlangen harren in der Tiefe noch seltsame, oftmals riesengroße Ungeheuer wie Tiburon, der seine Gestalt wandeln kann, aber immer unzählige Reihen von Zähnen im Maul hat, damit er richtig zubeißen kann.

Damit sind wir auch schon mitten in „Ein Piratenleben“, dem abschließenden zweiten Teil von „Piraten-Nationen“, der mit „Piratenzauberei“ gleich Ambiente verbreitet. Während die Charta-Magie ritualisierte Vertragszauberei ist, bei der sich alle Unterzeichner an den Kontrakt halten, um den Segen in Form des gesteigerten Glückspools zu erhalten und einen Fluch zu vermeiden, laden die Sèvitès uralte Geister, die Lwa, in ihren eigenen Körper ein und geben damit einen Teil ihrer Seele auf. Durch die Beschwörung erhaltene Zauber sind zum Beispiel „Fenster zur Seele“, um die letzten Momente im Leben eines Toten nachzuempfinden, oder „Egregore“, das geistigen Kontakt mit einer anderen Person ermöglicht. Mohwoo dagegen sind magische Tätowierungen, durch die der Held vielleicht weniger Wunden als üblich erleidet („Schildkröte“) oder einen Mord verhindert („Krabbe“). Gemein ist der Zauberei, dass sie nicht aufgesetzt wirkt, sondern atmosphärisch stimmig ins Gefüge eingeflochten wurde.

Weitere Segmente beschäftigen sich erwartungsgemäß mit den Helden selbst. Auf die neue Umgebung zugeschnittene Hintergründe werden wie gewohnt mit Spleen, Vorteilen und Fertigkeiten präsentiert, wobei die Vorteile unverändert aus dem Grundregelwerk übernommen werden, die Vorteile dagegen auch außergewöhnlich wie „Jonahs Anteil“ sein können – ein abgeschnittenes Körperteil spült dem Helden womöglich (so ein Vorschlag) ein Paar Stiefel in die Hände (so denn beide noch vorhanden sind, und unter Umständen genügt ja auch ein linker oder ein rechter Stiefel), mit dem das Wasserwandeln möglich ist.

Nach einigen nicht alltäglichen Duellantenstilen, Erläuterungen zu Schiffen und Geheimgesellschaften wie der La Cosca, in der sich die Helden auch von Amico oder Amica Stufe um Stufe hinaufarbeiten können, führt uns das Quellenbuch zum Ende hin auf „Schiffsreisen“ und zu ein paar Abenteuerideen. Beim Thema Schiff werden die Unterschiede zu den Segelschiffen im Grundregelwerk herausgearbeitet – logisch, die Piraten sind anders, und eine Piratenmannschaft in „7te See“ handelt nach demokratischen Grundsätzen. Ob die übertrumpfte Minderheit aber alle Seemeilen über stillhält, sei dahingestellt ...

Insgesamt werden dem Spielleiter ausreichend viele Ideen mit auf den Weg gegeben, die er in Abenteuer ummünzen kann. Im Grunde jeder Charakter, jede Gesellschaft und die Örtlichkeit dienen sich als Quellen an, mehr oder wenige kleine Aufhänger für den Start in eine Handlung, die der Spielleiter dann gemeinsam mit den Helden weiterentwickeln kann. Konfliktpotenzial steckt mehr als genug in allen Inseln, für ordentlich Zunder in den Kanonenrohren sorgen sicher die Helden selbst, wenn sie sich als Piraten anbieten, als Rahuri ihre Heimat vor Widrigkeiten bewahren – oder doch mit den Bösen paktieren, sagen wir mal der Atabischen Handelskompanie. Oder sind nicht doch die die Guten? Ach, irgendwie hat ja jeder wie dazumal Kapitän Vallo in „Der Rote Korsar“ Dreck am Stecken, und die Guten sind im Zweifel immer die, auf deren Seite die Helden stehen. Muster in der Literatur oder in Filmen gibt es zum Thema Piraten ja zuhauf.

Die Aufmachung von „Piraten-Nationen“ ist vorzüglich, der stabile Umschlag hält sicher länger als die Treueschwüre der Piratencrew. Die Landkarten decken alle erzählten Inseln und relevanten Punkte ab, und charmante Farbzeichnungen illustrieren Personen und Landschaften.

Fazit: 200 Seiten vorzügliches Material zu den Piraten der „7ten See“ – da stimmt so gut wie alles. Vielleicht hätte ich mir noch etwas mehr Informationsmaterial zu den Piratenschiffen gewünscht, ein beispielhafter Schiffsplan hätte meinen Appetit an Karten und Plänen noch mehr gesättigt. Aber das ist das sattsam bekannte Nörgeln auf hohem Niveau. Überhaupt muss es doch einfach heißen: „Piraten, hisst die Segel und kämpft für Freiheit und Reichtum! Und zeigt der Kompanie, was ein echter Enterhaken ist.“ Für „7te See“-Helden und ihre Spielleiter ist „Piraten-Nationen“ selbstverständlich unverzichtbar.

7te See Piraten-Nationen
Quellenbuch
John Wick, Ben Woerner, Mark Diaz Truman u. a.
Pegasus Press 2017
ISBN: 9783957891082
212 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 24,95

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