Das Halbmondreich

„Außerhalb des Kontinents Théah existieren zahlreiche fremde Länder, Orte voller Wunder, Rätsel und Magie [...] im Osten das Halbmondreich.“ Die Neugierde weckte bereits dieser kurze Eintrag im Grundregelwerk, und die Weltkarte mit dem am Rande sandfarben angedeuteten Land „Haldmondreich“ nährte diese noch. Nicht ganz so zahlreich wie die Sandkörner in der 8ten See, dafür aber vielfältig, sind die Nationen, die unter der Herrschaft von Sultana Safiye erblühen. Neben Einblicken in die Kulturen bietet das Quellenbuch auch viele Abenteuerideen und zusätzliche Regelvorschläge an.

von Karl-Georg Müller

Der erste intensive Blick fällt auf die doppelseitige Karte. Die Bezeichnungen wurden diesmal nicht übersetzt, doch erklären sich Begriffe wie „The Eight Sea“ oder „Gilead Desert“ eher von selbst und sind später in den Beschreibungen gut zuzuordnen. Weniger einfach fällt mir die Verortung einzelner Dörfer oder Städte, denn der Maßstab ist – das Halbmondreich ist wirklich riesig – so gewählt, dass die Namen entsprechend winzig ausfallen. Letztlich lässt sich aber alles auffinden, was im Quellenbuch benannt wird.

Richtig zur Sache geht es dann mit dem Inhaltsverzeichnis, das mir sieben Kapitel präsentiert. Nach einem stimmungsvollen Einstieg mit „Die Palastinsekten“, einer fabelhaften Erzählung aus unterschiedlichen Blickwinkeln, erhalte ich einen Überblick der vier großen Nationen des Halbmondreichs: Anatol Ayh, Persis, Sarmion und die Stämme der 8ten See; der Stadtstaat Aschur dazu ist sein eigenständiger Herr.

Doch bevor sich den einzelnen Nationen zugewandt wird, geben die Autoren Einblicke in die Geschichte des Reichs und die Bedeutungen der insgesamt drei Propheten, über die Dichtkunst und die Gesellschaft (worunter dann auch ein schöner Abschnitt zur Kaffeehauskultur und der Zubereitung des edlen Getränks zählt). Wichtig sind die Anmerkungen zur Religion mit heiligen Stätten, Symbolen und den Organisationen. Denn natürlich ist das Staatengebilde höchst religiös geprägt – und natürlich werden wir als Leser nicht nur bei der Namensgebung schnell die Nähe zu unserer irdischen Welt entdecken. Das wiederum erleichtert das Hineinfinden in die orientalisch anmutenden Kulturen. Was ich mir gewünscht hätte (für dieses und die Angaben in späteren Kapiteln): eine übersichtlichere Darstellung der geschichtlichen Ereignisse, mit Zeitstrahl und kurzen Angaben. Im Fließtext liest sich dies alles faszinierend, die Details verlieren sich aber in der dicht gestrickten Menge an Informationen.

Für das Rollenspiel nicht minder wichtig erweist sich das Rechtssystem, denn wer, wenn nicht die Helden, balancieren auf dem schmalen Grad zwischen Recht und Unrecht – besonders in einem Land wie dem Halbmondreich, in dem nicht nur drakonische Strafen verhängt werden können, sondern das wegen seiner zur westlichen Kultur unterschiedlichen Sitten und Gebräuche eigentümlich wirken kann.

Auf acht Seiten erfahren wir darauf einiges über die landestypischen Geschöpfe, beispielsweise die Dschinn, die dem Halbmondreich natürlich eine spezielle Aura verleihen und die wir wie in „Tausendundeine Nacht“ natürlich erwarten.

Manchmal poetisch, dann aber mit handfesten Fakten gespickt, präsentieren sich die folgenden Kapitel. Die Länder werden nach demselben Aufbau behandelt. Geschichte, Regierung, Verwaltung und Religion bilden den Einstieg, wobei die religiösen Aspekte sich je nach Nation stark unterscheiden können. Unter dem Stichwort Gesellschaftsklassen begegnen wir beispielsweise dem Hüter des Ersten Gartens – während die Helden den an diesem Ort ausgebildeten Assassinen vermutlich lieber aus dem Weg gehen werden. Schön auch, wenn in kleinen Textkästen zusätzliche Informationen weitergegeben oder – wie im Falle von „Der Alte Mann auf dem Berg“ – von stimmungsvollen Begegnungen erzählt wird. Kultur und Gebräuche runden den Teil ab, wobei noch Tipps zur Namensgebung sicher hilfreich sind.

Um das angehäufte Wissen noch mit weiterer Substanz zu unterfüttern, stellen die Autoren wichtige Orte vor und deuten die Beziehungen zu den anderen Nationen des Halbmondreichs. Und damit jeder Spielleiter einflussreiche Persönlichkeiten, zu denen natürlich die Sultana, aber auch Stammesbotschafter oder Forscher gehören, ins Geschehen einflechten kann, begegnen uns auf jeweils einer Seite, umrahmt mit einer ansprechenden Farbillustration, abwechslungsreiche Porträts – eingebunden mit Anregungen für Geschichten, also Ideen, um diese Personen in einem Abenteuer eine Rolle spielen zu lassen.

Kapitel 7 lenkt unsere Blicke auf die Abenteuer im Halbmondreich, natürlich besonders auf die Erschaffung von Helden, die mit auf das Ambiente abgestimmten Hintergründen, Fertigkeiten oder Vorteilen ausstaffiert werden. Das liest sich alles sehr rund, wenn wir uns als einen persitischen Rebellen oder einen yachidischen Arzt darstellen können. Nach atmosphärisch dichten Sätzen zu Geheimgesellschaften tauchen wir in die Zauberei im Halbmondreich ein – Wunder sind dies, genau so, wie wir es in einem orientalischen Reich erwarten. Die Palette ist sehr vielfältig und in meinen Augen einfühlsam mit Worten und Begriffen umkleidet, wobei diese Palette von Amuletten und Skripten weiter reicht über „kleine Wunder“ wie Lebab, das Versprechen der Klarheit des Herzens, bis zu den Höheren Turrus, bei denen zum Beispiel der „Zorn des Himmels“ ein echter Kracher ist, mit dem alles in einem vorgegeben Umkreis eingeäschert wird. Immer aber passen die Wunder zu den einzelnen Kulturen.

Überraschend sind dagegen die sozialen Aspekte, die von den Autoren eingebaut werden. Kein männlicher Despot regiert das Halbmondreich, sondern eine Sultana, die noch dazu romantische Gefühle für die männlichen als auch die weiblichen Angehörigen ihres Harems hegt. Zudem zeigt sie sich modern in ihren Gedanken, reformiert das Land – und das stößt natürlich keineswegs auf Zuspruch oder Unterstützung. Natürlich ist das auch unserem kulturellen Denken geschuldet, das sich offener zeigt, respektvoller im Umgang mit Andersdenkenden. Und vermutlich wollen sich auch die Autoren derart aufgeklärt zeigen – ob das dem Rollenspieler gefällt, der ja auch gerne einmal in einem kontrovers zu unserer Gegenwart gestalteten Welt agieren möchte, muss jeder selbst entscheiden. Treibstoff für aufregende Abenteuer, wenn die Konflikte richtig aufbrechen, bietet das allemal.

Mit Regeln zum Massenkampf, zur Kavita, der Kunst des Poesieduells, und dem obligatorischen Index schließt der Band ab. Zur Augenweide wird das Quellenbuch durch die vielen farbigen Abbildungen, die gerne auch Szenen des Alltags, aber auch spektakuläre Geschehnisse wie das Entern eines Schiffs, wiedergeben. Ein Lesebändchen und die erwähnte farbige Karte (die sich in identischer Form nochmals auf den hinteren Umschlagseiten innen wiederfinden) vervollständigen das Werk.

Fazit:
Die „7te See“ ist um eine weitere See reicher – und reicher im wahrsten Sinne, denn die vielfältigen Möglichkeiten für Abenteuer, die das Halbmondreich bietet, lassen sich gar nicht in ihrer Zahl abschätzen. Viele der Details bergen Ideenschnipsel in sich, die sich gut als Aufhänger oder Einstieg in ein Ereignis eignen, in das sich die Helden involvieren lassen. Die religiösen Facetten, die kulturellen Unterschiede, die durch Sultana Safiye heraufbeschworene, neue Zeit sollten Anreize genug schaffen, um das Halbmondreich für mehr als eine Stippvisite aufzusuchen. Zwar finden sich keine ausgearbeiteten Abenteuer in diesem Quellenbuch, aber mehr als genügend Einfälle und Vorschläge, aus denen sich sicher eine spannende Kampagne knüpfen lässt. Und ein „guter Grund“, um ins Halbmondreich zu reisen, sollte sich doch finden lassen. Los also, hinüber segeln in die 8te See! Oder nach Anatol Ayh. Oder Aschur und Persis – das Halbmondreich und seine Abenteuer warten.

Das Halbmondreich
Quellenbuch
Elizabeth Chaipraditkul, Michael Curry u. a.
Pegasus Spiele 2018
EAN: 9783957891334
212 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 24,95

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