Perlentaucher vor R'lyeh

Das Rollenspiel „Cthulhu“ kann in Deutschland auf eine beeindruckende Historie zurückblicken. Bereits 1986 erschien die erste deutsche Veröffentlichung, und seit der Übernahme durch Pegasus im Jahre 1999 eroberte der Mythos mit konstanten Veröffentlichungen die Spieltische. Die Stärke von „Cthulhu“ waren dabei schon immer die Abenteuer, weshalb der Verlag im Zuge der Feierlichkeiten zu „20 Jahre Cthulhu bei Pegasus“ diesen Umstand mit einem besonderen „Cthulhu“-Band zelebrierte: „Perlentaucher vor R'lyeh“.

von Oliver Adam

Was ist an diesem Band nun so außergewöhnlich? In einer öffentlichen Abstimmung im „Cthulhu“-Forum konnten die Spieler und Sammler ihre Lieblingsabenteuer nach einem ausgeklügelten Abstimmungssystem wählen. So haben es aus rund 340 Abenteuern zunächst 34 ins Finale geschafft, aus welchen dann akribisch die Top-10 gewählt wurde. Sechs Perlen aus der Top-10 haben es nun in die umfangreiche Neuveröffentlichung „Perlentaucher vor R'lyeh“ geschafft. Aber sind sie das nun, die besten „Cthulhu“-Abenteuer aller Zeiten, oder verklärt der Nostalgiefaktor den nüchternen Blick auf angestaubte Kamellen?

Die Aufmachung des rund 200 Seiten starken Hardcovers macht einiges her und ist einer Best-of-Sammlung absolut würdig. Der komplette Innenteil ist vierfarbig gedruckt und mit eindrucksvollem Karten- und Handout-Material ausgestattet; ein goldenes Lesebändchen unterstreicht die Wertigkeit des Bandes. Schade nur, dass auf die erhabene Prägung des Buchtitels (wie beispielsweise bei „Schreckensherrschaft“) verzichtet wurde.

Achtung: Ab hier besteht Spoilergefahr. Nur Spielleiter sollten die folgenden Abschnitte lesen.

Den Auftakt macht mit „Der Sänger von Dhol“ ein absoluter Klassiker, der ursprünglich in „Cthuloide Welten 1“ im Jahre 2002 veröffentlicht wurde. Die Spieler schlüpfen in die Rolle von Familienmitgliedern einer alten Erblinie auf der Insel Pellworm, ohne zu wissen, dass sie selbst auch Teil des Mysteriums sind. Die vorgefertigten Spielercharaktere sind hervorragend ausgearbeitet und haben dabei verschiedene und gleichzeitig auch verknüpfte Motive und Lebensziele, sodass gruppeninterne Konflikte kaum zu umgehen sind. Allerdings sollte es sich der Spielleiter überlegen, den Familiennamen abzuändern, um allzu paranoiden Spielern nicht zu schnell auf eine Fährte zu bringen. Anfangs ähnelt das Abenteuer einer rätselhaften Kriminalerzählung, die sich allerdings sehr schnell in eine beklemmende Schauergeschichte verwandelt, bei der die Investigatoren unvermittelt im Brennpunkt stehen. Gerade der persönliche Bezug der Investigatoren zum Schauplatz und zur Handlung macht aus „Der Sänger von Dhol“ ein atmosphärisch sehr dichtes Szenario. Aufgrund der vorgefertigten Investigatoren, einem offen gehaltenen Ablauf sowie einem abgeschlossenen Schauplatz, eignet sich das Abenteuer auch für unerfahrene Spieler. Der Spielleiter sollte allerdings etwas Erfahrung aufweisen und gut vorbereitet sein, um bei der Masse an Hintergrundinformationen und Verknüpfungspunkten die Übersicht behalten zu können.

„Kinder des Käfers“ erschien erstmals in dem gleichnamigen Band von 2003 und ist ein klassisches „Cthulhu“-Abenteuer, das alles beinhaltet, was man von einem solchen erwartet: einen spannenden und atmosphärischen Plot, der geschickt den Mythos mit realen Begebenheiten verflechtet, merkwürdige Nichtspielercharaktere und rollenspielerische Herausforderungen. Zunächst geht es um die Suche nach einem verschwundenen Freund. Nach Untersuchungen in dessen Heimat folgen die Investigatoren seiner Spur in ein kleines Örtchen, das in den Wäldern Vermonts liegt. Dort können sie sehr frei recherchieren und tief in die Hintergrundgeschichte eintauchen. Ein Brutschiff der Insekten von Shaggai havarierte in den undurchdringlichen Wäldern, mit beachtlichen Auswirkungen für die regionale Flora und Fauna, die durch die entflossene Nährflüssigkeit unnatürlich stark heranwuchsen und zu vorzeitlichen Entwicklungsstadien zurückfielen. Zudem unterwanderten die Insekten das soziale Gefüge des Ortes, da sie einige Anwohner als Wirtskörper übernahmen. In einem beeindruckenden Finale im Wrack des Brutschiffs der außerirdischen Reisenden stehen die Investigatoren dann schließlich den Insekten von Shaggai und deren Mutterwesen gegenüber. Ein wirklich herausragendes Abenteuer, das sowohl Einsteiger als auch erfahrene Cthulhianer überzeugt. Abgerundet wird das Paket von stimmigen Handouts und beeindruckenden Illustrationen, die auch als Handout in das Spiel eingebaut werden können.

„Der lachende Mann“ stammt aus dem Quellen- und Abenteuerband „Festival Obscure“ von 2005 und bedient sich der zwiespältigen Angst vieler Menschen vor Clowns. Der Clown dieses Abenteuers birgt ein Geheimnis, das weit in die Vergangenheit zurückreicht – eine Zeit, in der Kinder zur Belustigung des Volkes verstümmelt und verkrüppelt wurden. Als Inspirationsquelle für das Abenteuer dienten literarische Quellen, und ganz besonders Victor Hugos gleichnamiger Roman. Ein eigentlich gemütlicher und lustiger Besuch des Jahrmarkts mit einer befreundeten Familie und deren Kindern mündet in zunehmenden Wahnsinn, als sich die Kinder gegen ihre Eltern stellen, merkwürdige Todesfälle überhand nehmen und entstellte Freaks durch die Straßen wandeln. Im Showdown bricht schließlich der Wahnsinn über den Köpfen der Investigatoren zusammen, wobei das Abenteuer auch eine vergleichsweise „friedliche“ Lösung zulässt. Ein ganz besonderes Jahrmarktabenteuer, das durch die historische Authentizität zunehmend beunruhigt und bedrückt. Diese Stimmung an den Spieltisch zu übertragen und die verschiedenen Szenen dramaturgisch zu verflechten, ist eine Herausforderung für den Spielleiter, der dafür mit einer unvergesslichen Spielrunde belohnt wird.

Um den verstörenden Nachlass eines reichen, kinderlosen Fabrikanten geht es in dem Abenteuer „In Scherben“ aus dem Quellen- und Abenteuerband „Dementophobia“ von 2007. Die Spieler übernehmen die Rollen der Ziehkinder des Industriellen, der in seinem Nachlass die dringende Forderung festgeschrieben hat, alle Spiegel im Haus zu verhüllen. Die bemerkenswerten Umstände seines Todes sowie die mysteriösen Vorkommnisse in seinem Umfeld bringen die Investigatoren auf die Spur einer Jugendsünde ihres Ziehvaters, deren Tentakel bis in die heutige Zeit reichen. Das Abenteuer kann nur mit den sehr detaillierten vorgefertigten Investigatoren gespielt werden, die tief mit der Handlung verwurzelt und in deren Hintergrund die Triebfedern für den Fortgang des Szenarios verankert sind. Daher ist es unabdingbar, dass sich die Spieler in die Tiefe mit ihren Investigatoren und deren Beziehungsgeflecht beschäftigen. Allerdings liest sich das Abenteuer durch lange Fließtexte sehr sperrig und bietet wenig Freiheiten vom vorgeplanten Ablauf abzuweichen. Damit das Abenteuer funktioniert, sollte es genau so ablaufen, wie im Abenteuertext beschrieben. An einigen Stellen wird sogar geraten, proaktive Handlungen der Spieler zu unterbinden („Suchen die Investigatoren andere Lösungen, sollte der Spielleiter versuchen, sie daran zu hindern.“, Seite 126). Daher eignet sich „In Scherben“ vor allem für Spielrunden, die ein lineares Drehbuch bespielen möchten, das durch seine beklemmende Atmosphäre und anspruchsvolles Charakterspiel eine intensive Geschichte erzählt.

In „Pinselstriche“ finden sich die Investigatoren in der Rolle von Jurymitgliedern einer Kunstausstellung im New York der Zwanziger Jahre wieder. Nach der Preisverleihung häufen sich die Todesfälle unter den Jurymitgliedern, und es entfaltet sich ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen den Investigatoren und einem noch gesichtslosen Gegenspieler. In diesem investigativen Szenario decken sie nach und nach die Hintergründe auf, bis sie den wahnsinnigen Plan eines verkannten Künstlers aufdecken, der sich im Strudel von Versagensangst und Größenwahn auf einen Handel mit dem König in Gelb eingelassen hat. Sehr spannend finde ich hier den Ansatz der „Realfarbe“, die zwei außergewöhnliche Eigenschaften hat: Die Bilder „fließen“ aus dem Kopf des Künstlers direkt auf die Leinwand und sie werden – wenn sie genug magische Energien gesammelt haben – Realität. Ein sehr schönes Abenteuer im Milieu der Künstler, bei dem aber auch die örtliche Mafia sowie knallharte Cops ihren Auftritt haben. Die von den Autoren angedachte Auflösung verlangt von den Spielern einiges an Denkarbeit, sodass sich der Spielleiter darauf einrichten sollte, hier etwas unterstützend einzugreifen. Darüber hinaus muss der Spielleiter die verschiedenen Szenen in einem zeitlich glaubwürdigen Ablauf strukturieren und die Fähigkeiten der Realfarbe glaubwürdig umsetzen. Dafür belohnt das Szenario mit einem intensiven Abenteuer in New York, das anfangs kriminalistisch daherkommt und der kosmische Schrecken erst am Ende so richtig zuschlägt.

Sehr klassisch kommt „Die Mutter allen Eiters“ daher, das ursprünglich in „Drei Tode in Lovecraft Country“ (2012) veröffentlicht wurde und das einzige übersetzte Abenteuer der Sammlung ist. Eine Nachbarin der Investigatoren wird Opfer eines schaurigen Mordes. Bei ihren Untersuchungen, die sie unter anderem an skurrile Schauplätze bis nach Dunwich führen, stoßen sie schließlich auf ein merkwürdiges Doppelleben des Opfers und einem von langer Hand geplanten Ritual. Wenn die Investigatoren alle Puzzleteile zusammensetzen, können sie unter Umständen das Ritual noch rechtzeitig unterbinden und damit die Herrschaft der Mutter allen Eiters verhindern. Das investigative Abenteuer nutzt Ekelmomente wie triefenden Eiter und heraushängende Innereien, sodass Spielrunden, die mal wieder Splatter-Horror erleben wollen, hier genügend in-your-face Momente vorfinden. Dabei sind die Hinweisketten recht offensichtlich, wodurch „Die Mutter allen Eiters“ das am einfachsten zu lösende Abenteuer der Sammlung ist. Allenfalls die Fertigkeitsprobe zur Unterbindung des Rituals auf eine bisher selten angewandte Fertigkeit (Singen) halte ich für dramaturgisch kontraproduktiv. Hier steht es dem Spielleiter natürlich frei, dies dramaturgisch anderweitig zu lösen.

Fazit: „Perlentaucher vor R'lyeh“ umfasst sechs sehr gute bis hervorragende „Cthulhu“-Abenteuer, aus denen vor allem „Der Sänger von Dhol“ und „Kinder des Käfers“ leuchtend hervorstechen, und „In Scherben“ wegen seiner eingeschränkten Spielfreiheit etwas zurückfällt. Jedes Abenteuer erzählt eine einzigartige Geschichte, und so zeigt der Abenteuerband, welche Spannbreite an Storys und Gestaltungsmöglichkeiten das „Cthulhu“-Rollenspiel abdecken kann. Ob diese nun die besten „Cthulhu“-Abenteuer aller Zeiten sind, ist natürlich der subjektiven Einschätzung jedes Einzelnen unterworfen. Mir kommen da noch andere Abenteuer in den Sinn, die das Niveau der hier vorgestellten erreichen. Gegenüber den Ursprungstexten wurden nur dezente Anpassungen an die 7. Edition vorgenommen sowie die Karten und Handouts verschönert. Das führt dazu, dass man einigen Szenarien das Alter etwas anmerkt: Die ausufernden Hintergrundtexte einiger Abenteuer würde man heute kompakter, die Handlungsoptionen offener halten. Wer alle Abenteuer bereits in seinem Besitz hat, braucht nicht unbedingt zuzuschlagen. Alle anderen können bedenkenlos zugreifen.

Perlentaucher vor R'lyeh
Abenteuerband
Florian Hardt, Frank Heller, Ingo Ahrens, Alexander Dotor, Christoph Maser, Peter Schott, Richard Watts
Pegasus Press 2020
EAN: 9783957893246
200 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 29,95

bei pegasus.de bestellen
bei amazon.de bestellen