Schreckensherrschaft

Die Historie der Menschheit ist durchsetzt von grausamen Epochen und gewalttätigen Auseinandersetzungen, die in ihrer Blutrünstigkeit den monumentalen Götterschlachten des Mythos in keiner Weise nachstehen. Auch wenn es die Französische Revolution 1789 bis 1799 mit rund 200.000 Toten kaum in die Top 50 der Kriege mit dem höchsten Blutzoll schafft, gehört sie zu den folgenreichsten und brutalsten Ereignissen der neuzeitlichen Geschichte. Der „Cthulhu“-Band „Schreckensherrschaft“ führt die Investigatoren in den Horror unter der Guillotine und ins Herz der Französischen Revolution.

von Oliver Adam

In diesem zweiteiligen Szenario erleben die Investigatoren in dem edlen „Cthulhu“-Hardcoverband „Schreckensherrschaft“ das Grauen der Revolution am eigenen Leib. Die Aufmachung des rund 130 Seiten starken Werkes macht einiges her und kann absolut als opulent bezeichnet werden. Das schaurige Cover greift die Atmosphäre der Epoche gekonnt auf, und die griffige Prägung des „Cthulhu“-Logos sowie des Buchtitels machen haptisch einiges her. Der komplette Innenteil ist vierfarbig gedruckt und mit umfangreichem Hintergrund- und Kartenmaterial sowie tollen Handouts angereichert. Ein kleiner Schönheitsfehler hat sich dann aber doch in die Fußzeilen eingeschlichen, bei denen sich auf drei Seiten der Titel eines Vorgängerbandes eingeschlichen hat. Für das Spiel ist das vollkommen irrelevant, und die meisten Leser werden diese Randnotiz kaum wahrnehmen.

Das Szenario kann mit eigenen Investigatoren gespielt werden, weitaus atmosphärischer ist es jedoch, auf die dem Band beigefügte vorgefertigte Gruppe von sechs Investigatoren zuzugreifen. Diese sind hervorragend ausgearbeitet und aufeinander abgestimmt, sodass sie eindrucksvolle Interaktionsfläche und Konfliktpotenzial bieten sowie schwerwiegende persönliche Dilemmata verursachen können – auch hinsichtlich der Sicht auf die Monarchie und die Revolution. Da gibt es den nüchternen monarchietreuen Offizier, der all dies durchsteht, um zu seinen kleinen Töchtern zurückzukommen. Den alkoholkranken alternden Soldaten, der alles verloren hat, was ihm wichtig war. Oder den jungen Soldaten, der sich nur allzu gerne von Liebeleien ablenken lässt. Die vielen kleinen Merkmale der Investigatoren sind gekonnt in das Abenteuer eingeflochten und werden in Triggerszenen angesprochen. Bei den sehr atmosphärischen Investigatorenporträts gibt es dann allerdings ein Bild, das aus meiner Sicht etwas zu viel von dessen geheimer Story preisgibt und das ich nur abgeändert (etwa mit geringerem Kontrast) am Spieltisch zum Einsatz bringen würde.

Den Auftakt des Bandes macht eine kurze Einführung, die den Spielleiter mit der Beschreibung und den Hintergründen der Französischen Revolution ausstattet und in ihrer Knappheit sicherlich für einige Spielrunden ausreichend ist. Dem ambitionierten Spielleiter sei jedoch in Anbetracht der vielschichtigen Thematik geraten, sich ergänzend weiteres Material aus Sekundärquellen wie Wikipedia anzueignen, um bei Detailfragen nicht kopflos (man verzeihe das Wortspiel) dazustehen. Ein wichtiger Abschnitt dieses Teils geht auch auf die Verbindung der Szenarien zu der längst vergriffenen „Cthulhu“-Kampagne „Horror im Orient-Express“ ein. Während „Schreckensherrschaft“ chronologisch deutlich vor der Zeitschiene von „Orient Express“ angesiedelt ist, verkörpern die Szenarien teilweise die Vorgeschichte zu dieser Kampagne und wichtige Geschehnisse sind bereits in den Handouts zu „Horror im Orient-Express“ verzeichnet. Daher kann „Schreckensherrschaft“ sowohl für sich alleine stehen, aber auch als Rückblende im Rahmen der „Orient-Express“-Kampagne gespielt werden. In einem Kastentext wird im Übrigen auch angekündigt, dass eine Neuauflage von „Horror im Orient-Express“ nur eine Frage der Zeit ist.

Der erste Teil des zweiteiligen Szenarios mit dem Titel „1789“ wirft die Investigatoren dann gleich in den blutigen Schmelztiegel des Ausbruchs der Revolution, der als historischer Rahmen und Projektionsfläche der cthulhoiden Begebenheiten dient. Dabei startet das Abenteuer mit einem dramaturgischen Knall und beginnt mit einer Prospektive – also einer Prolog-Erzählung, bei der bereits ein Vorblick auf Höhepunkt und Finale des zweiten Szenarios geboten wird. Die Investigatoren befinden sich nämlich auf der Ladefläche eines Karrens, der sie zur Guillotine führen wird und endet mit einem dramatischen Schnitt, als die Klinge auf einen nicht benannten Investigator hinabsurrt. Bis zu dieser Szene ist es jedoch noch ein weiter Weg, und so starten die Investigatoren fünf Jahre vor dieser Prospektive als Soldaten der Armee des Königs, die einer unglaublichen Verschwörung auf die Spur kommen. Die Hinweise führen von den muffigen Gebeinkatakomben unter Paris, zu einem politisch motivierten Mord an der Druckerpresse, bis hin zum Etikette-behafteten Alltag in Versailles. Der Spielleiter sei an dieser Stelle auf eine kleine Ungenauigkeit der großen doppelseitigen Spielerkarte im Heftinnern hingewiesen, bei der die Punkte 13 (Tumult an der Bäckerei) und 14 (Druckerei) vertauscht sind und bei dieser Konstellation eine prägende Zwischenbegegnung unmöglich werden lassen. Auf der kleineren Spielleiterkarten sind die Punkte übrigens korrekt. Der Showdown führt die Investigatoren schließlich zu einer Festivität auf einem Adelslandsitz in Poissy außerhalb von Paris, bei dem ein denkwürdiger Abend voller Schrecken und ein mythischer Danse Macabre auf sie warten, wenn sie in die Ränkespiele des nicht-menschlichen Kontrahenten verwickelt werden.

Ein kurzes Interludium umreißt die Ereignisse der bewegten Jahre nach 1789 und überführt die Investigatoren in den zweiten Teil des Szenarios mit dem Titel „Juni 1794“, das mitten im Zusammenbruch des Terrorregimes spielt. Der Erfolg (oder Misserfolg) der Investigatoren aus dem ersten Szenario hat hier direkte Auswirkungen auf den Plot, da ihre Handlungen erst den Boden für den Aufstieg eines weiteren Ungeheuers bereitet haben, dessen schrecklicher Plan eine Apokalypse über Paris und ganz Frankreich hereinbrechen lassen könnte. Durch den kakophonischen Aufschrei Tausender erlöschender Seelen auf den mythosgeweihten Guillotinealtaren soll ein Riss am Himmel erzeugt werden, durch den das wirbelnde, nukleare Chaos auf unsere Welt beschworen wird. Das Resultat wäre eine apokalyptische Katastrophe ungeahnten Ausmaßes, in dessen Folge eine neue Weltordnung stünde. Auch hier startet das Abenteuer an den Katakomben von Paris, in denen die Investigatoren einen ungeahnten nichtmenschlichen Verbündeten finden. Danach stehen zahlreiche Recherchewege offen, die sie durch nach Blut stinkende Gassen von Paris und in viele Gesellschaftsschichten treibt. Während das erste Szenario noch gradliniger verläuft, liegen die Stärken des zweiten Szenarios in der fast sandboxartigen Bewegungsfreiheit der Investigatoren und den vielfältigen Rollenspielmöglichkeiten. Und dabei schwebt beständig das Damoklesschwert über ihnen, dass nur ein einziges verdächtiges Wort bereits mit der Guillotine geahndet werden kann. Schließlich finden sich die Investigatoren in eingangs geschilderter Prospektive wieder und der Showdown nimmt seinen Lauf – zum Guten oder zum Schlechten.

Fazit: „Schreckensherrschaft“ bringt den Schrecken der Französischen Revolution an den Spieltisch und verknüpft diesen mit dem Cthulhu-Mythos. Das epische, zweiteilige Szenario überzeugt auf ganzer Linie und macht einmal mehr die ausgeprägte Stärke des „Cthulhu“-Rollenspiels in der Vermengung von historischen Hintergründen mit übernatürlichem Schrecken deutlich. Die Aufmachung des Bandes mit vorgefertigten Investigatoren, zeitgenössischen Karten, Hardcover und Vierfarbdruck kann nur als opulent bezeichnet werden – und das zu einem Preis von knapp 18 Euro. Eine absolute Kaufempfehlung mit Sternchen für jeden, der Vergnügen an Horror-Rollenspiel vor düsteren historischen Begebenheiten hat.

Schreckensherrschaft
Quellen- und Abenteuerband
Mark Morrison, Penelope Love, James Coquillat, Darren Watson
Pegasus Press 2019
ISBN: 9783957893154
128 S., Hardcover, deutsch
Preis: 17,95 Euro

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