Grenzland

Beeindruckende und Grenzen überschreitende Kampagnen wie „Orient Express“, „Die Bestie“ oder „In Nyarlathoteps Schatten“ gehören seit Jahrzehnten zum Markenkern des „Cthulhu“-Rollenspiels. Mit „Grenzland“ liegt nun eine vollständig von deutschen Autoren verfasste Kampagne vor, die im Jahre 1927 von Berlin aus über Breslau und Danzig nach Ostpreußen führt. Kann diese neue Kampagne mit den Klassikern aus den frühen Tagen von „Cthulhu“ mithalten und zusätzlich neue Aspekte hinzufügen?

von Oliver Adam

Die Aufmachung des rund 180 Seiten starken Hardcovers macht einiges her und ist einer opulenten Kampagne absolut würdig. Der komplette Innenteil ist vierfarbig gedruckt, was vor allem das Karten- und Handoutmaterial aufwertet. Zahlreiche zeitgenössische Bilder und Textkästen lockern den Band auf und sorgen für Lesbarkeit und Übersichtlichkeit. Bei einem Werk dieses Umfangs kann dann natürlich auch der eine oder andere Schnitzer durchrutschen. So fällt bei einem Nichtspielercharakter auf, dass die Beschreibung (mächtiger Schnurrbart, Knollennase) so überhaupt nicht zu dessen Bild passen möchte. Deutlich gravierender empfinde ich das Fehlen einiger Karten von wichtigen Städten und Gebieten der Kampagne, die der Spielleiter nun eigenständig recherchieren muss.

Bevor wir zum Inhalt der Kampagne kommen, an dieser Stelle noch ein Hinweis auf mögliche Spoiler in den folgenden Absätzen, da ich auf wesentliche Handlungselemente und Motive der Kampagne eingehen werde. Wer die Kampagne noch als Spieler erleben möchte, ist eingeladen, gleich zum Fazit zu springen.

Das erzählerische Hauptmotiv der Kampagne ist der Verlust der Zivilisation. Die Investigatoren starten in einer Metropole des Deutschen Kaiserreichs und bewegen sich im Laufe der sechs Episoden der Kampagne immer weiter in archaische und rauere Regionen. In demselben Maße nimmt der Zugriff auf Ressourcen wie Bibliotheken oder Verbündete stetig ab und das „auf sich allein gestellt sein“ wächst. Die Region Ostpreußen bietet sich für eine Kampagne dieser Ausrichtung förmlich an. In den 1920er Jahren ist Ostpreußen ein Land am Ende der Welt. Ein Land, in dem die Zeit langsamer verrinnt als anderswo, wo in riesigen, einsamen Wäldern das Böse wohnt und in dessen finsterer Einsamkeit niemand die Schreie der Investigatoren hört.

Ganz im Sinne dieses Ansatzes startet das erste Abenteuer der Kampagne „Böses Erwachen“ im zivilisierten Berlin der 1920er Jahre, wo ein gemeinsames Schicksal die Investigatoren zusammenschweißt. Sie erwachen als Gefangene in den Zwingern eines Tierasyls und erkennen, dass sie als Versuchsobjekte für medizinische Tests missbraucht wurden. Nur wenn sie unmittelbar zusammenarbeiten, können sie aus dieser misslichen Lage fliehen und im Großstadtdschungel auf Spurensuche gehen, um mehr über die Antagonisten herauszufinden. Der absolut involvierende Einstieg bietet eine schicksalhafte Motivation der Investigatoren, kann jedoch zugleich auch ein Problem sein, wenn neue Investigatoren in die laufende Kampagne eingefügt werden sollen (beispielsweise aufgrund von Todesfällen), da sich bei Neuzugängen diese Verknüpfung nicht so einfach nachbilden lässt. Ein inspirierter Spielleiter kann hier sicherlich eine Brücke schaffen, spezifische Anregungen im Band wären jedoch hilfreich gewesen.

Die Investigatoren drehen also den Spieß um, und aus den Gejagten werden Jäger, die tief in das Berliner Nachtleben, in das Milieu der Ringvereine sowie in das Kellerlabor eines Veteranenheims eintauchen und dabei Stück für Stück die Anzeichen einer Verschwörung von ungeheuerlichem Ausmaß aufdecken, hinter der vier einflussreiche Personen stehen. Die Spuren führen dabei nach Breslau und Danzig. Die Investigatoren sind grundsätzlich frei darin, welche Stadt sie zuerst aufsuchen möchten, wobei die stärksten Hinweise nach Breslau führen.

In „Das Biest aus dem Brunnen“ erforschen die Investigatoren in Breslau die Geschichte eines Konspiranten und die Machenschaften seines deutschnationalen Ritterordens, der die Stadt beherrscht. Sie können tief in den Werdegang des Widersachers eintauchen und an erste Erkenntnisse zu der Verschwörung gelangen. Währenddessen wirft eine große militärische Operation ihre Schatten voraus, die in einem blutigen Ritual enden soll, das bedeutende Auswirkungen auf den Showdown der Kampagne haben würde.

Danzig ist in der dritten Episode „Regen und Verfall“ der Handlungsort eines weiteren Verschwörers, der in einer Fabrikanlage abnormen Treibstoff und Bauteile für etwas Größeres, Unbekanntes produziert. Besonders hervorzuheben ist ein sehr inspirierendes Handout des Periodensystems, das zur Dechiffrierung wichtiger Hinweise dient. Am Ende müssen die Investigatoren überstürzt aufbrechen und mit einem gekaperten U-Boot entkommen.

Mit diesem können sie zur nächsten Episode in Königsberg und zum „Haus der verlorenen Seelen“ gelangen. Dort setzen sie sich auf die Fährte der dritten Verschwörerin, die in einem Kinderheim abartige Experimente durchführt, die in ihrem tiefsten Innern jedoch deutlich weniger korrumpiert erscheint, als die anderen Kultisten.

Die Ermittlungen führen die Investigatoren schließlich „In die dunklen Wälder“ Ostpreußens. Im selben Maße, wie sie sich von jeglicher Zivilisation entfernen, entschwindet ihnen auch ihre Menschlichkeit, wenn sich der in den Menschenexperimenten gepflanzte Samen immer weiter in ihnen ausbreitet. Dort finden sie den Stützpunkt der Verschwörer und stoßen tief in deren Bunker auf eine abartige Maschine, die aus Menschen Monstersoldaten macht. Hier können sie die Wirkung der an ihnen vorgenommenen Experimente rückgängig machen.

Während die Episoden zuvor eindeutig „Cthulhu“-Flair verbreiten, schwingt hier aufgrund des militaristischen Hintergrunds, unbegreiflicher Kriegsmaschinerie und den Ausgeburten ingenieurstechnischen Wahnsinns eine deutliche Prise „Achtung! Cthulhu“ mit. In Anbetracht der zahlreichen und starken Gegner erscheint dieser Part für Investigatoren ohne militärische Ausbildung kaum schaffbar. Hier muss der Spielleiter das gegnerische Arsenal an die Fähigkeiten der Investigatoren ausrichten. Nach all den Strapazen kommen die Investigatoren schließlich ans Tageslicht zurück, nur um am Horizont das Ende von Königsberg zu beobachten. Die Verschwörer haben Shub-Niggurath herbeigerufen und die Stadt in eine apokalyptische Hölle verwandelt, deren Statthalter der vierte Verschwörer wurde.

Das Finale der Kampagne findet schließlich „Im Reich der Schwarzen Ziege“ statt. Dort kämpfen sich die Investigatoren durch eine vom Mythos deformierte Stadt mit Überlebenden und Flüchtenden am Abgrund des Wahnsinns. Ihnen bleibt nur ein verzweifeltes Attentat auf den fast unbesiegbaren Herrscher. Der hat allerdings eine Schwäche, die die Investigatoren im Verlauf der Kampagne möglicherweise ausfindig machen konnten. Diese fulminante, abschließende Episode spielt sich wie ein Szenario aus „Cthulhu Apokalypsen“ – düster, hoffnungslos und verzweifelt.

„Grenzland“ verfügt über einen abwechslungsreichen und überzeugenden Kampagnenbogen und richtet sich dabei an Spieler, die Initiative zeigen und auch vagen oder angedeuteten Hinweisen nachgehen. Oftmals deuten nur unbestimmte Anhaltspunkte zu einer Stadt der Kampagnenhandlung, und die Investigatoren müssen vor Ort nach verlässlicheren Spuren suchen. Wer sich gerne berieseln lässt und einer vorstrukturierten Handlung folgen will, wird möglicherweise im Handlungsfluss der Kampagne stranden. Aufgabe des Spielleiters ist es, den Spielern diese Freiheiten zu gewähren und dennoch dafür zu sorgen, dass die Kampagne vorangetragen wird. Hier bietet die Episode in Königsberg einen hervorragenden Baukasten mit optionalen Szenen, durch die eine Gruppe wieder auf die richtige Spur gebracht werden kann. Es wäre schön gewesen, wenn dies über alle Episoden durchgezogen worden wäre. Eine weitere Optimierungsmöglichkeit wäre eine übersichtliche Tabelle, die auf einen Blick alle Hinweise, Nichtspielercharaktere und deren Verknüpfungen aufzeigt, um den Spielleiter bei der hohen Dichte an Informationen zu unterstützen.

Fazit: „Grenzland“ ist eine abwechslungsreiche, fordernde und teilweise gnadenlose Reise an der Grenze der Zivilisation. Die Kampagne besticht durch einen überzeugenden, cthuloiden Plot, schillernde Antagonisten und einen Spannungsbogen, der von den individuellen Schicksalen der Investigatoren und deren Ringen um die eigene Menschlichkeit bis zum epischen Showdown reicht. Lediglich das Fehlen einiger wichtiger Karten und einer Hinweise-Übersicht machen dem Spielleiter die Vorbereitung etwas schwerer als notwendig. Eine tolle „Cthulhu“-Kampagne, die absolut auf Augenhöhe mit den bekannten Klassikern ist und sowohl durch das unverbrauchte Ostpreußen-Setting als auch durch ihren unkonventionellen Umgang mit den Klischees von „Kultisten“ und „dunklen Wäldern“ unverbraucht und modern wirkt.

Grenzland
Kampagnenband
Marcel Durer, Stefan Franck, Sascha Hillenbrand, Uwe Weingärtner, Sebastian Weitkamp
Pegasus Press 2020
ISBN: 9783969280041
184 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 24,95

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