Eiskalte Ernte

Cthuloide Szenarien finden ihren Platz an allen möglichen Orten und in allen möglichen Settings. Nun also verschlägt es die Investigatoren in den 1930er Jahren nach Russland. Ist der Tapetenwechsel reine Kosmetik oder ergibt sich ein neues Spielgefühl?

von André Frenzer

Im Rahmen der Softcover-Bände wagt Pegasus auch gern einmal kleinere Experimente. Und als solches möchte ich auch „Eiskalte Ernte“ – oder „Cold Harvest“, so der amerikanische Originaltitel – bezeichnen. Denn während die meisten Szenarien, die für „Cthulhu“ erhältlich sind, in der westlichen Welt angesiedelt sind, führt dieser One Shot die Investigatoren in die Sowjetunion. Um was geht es genau?

Die Spieler schlüpfen in die Rollen von Angestellten des NKWD, des „Volkskommissariats für innere Angelegenheiten“. Diese Organisation stellt sowohl die offizielle als auch die Geheimpolizei der Sowjetunion dar. Agenten des NKWD regeln den Verkehr oder exekutieren antistalinistische Delinquenten – je nachdem, was gerade anfällt. Und in der noch jungen Sowjetunion gibt es einiges zu tun für die Agenten der NKWD. Denn Stalin ist mitten in seiner großen Säuberung. Wer gegen den Anführer spricht, wird exekutiert oder in ein Gefangenenlager deportiert. Ebenso werden die Grundrechte der Bevölkerung immer weiter beschnitten. Und selbst die Agenten des NKWD können sich oftmals plötzlich auf der Liste der Delinquenten wiederfinden, wenn ihre Vorgesetzten nicht zufriedengestellt wurden.

Vor diesem Hintergrund werden die Investigatoren in ein kleines Bauerndorf, ein sogenanntes Sowchos geschickt. Ein Sowchos ist ein landwirtschaftlicher Großbetrieb, von dem erwartet wird, einen gewissen Ernteertrag zu erwirtschaften. In „Krasivyi Oktabyr-3“ allerdings scheint die Ertragskraft im vergangenen Jahr gesunken zu sein. Zusätzlich liegt ein Brief vor, der einen der dort ansässigen Bauern der Sabotage und des Vaterlandsverrates bezichtigt. Nun gilt es für die Investigatoren nicht nur, das unliebsame Individuum festzusetzen, sondern auch gleichzeitig herauszufinden, warum die Ertragskraft des Sowchos eingebrochen ist. Und sie sollten tunlichst nicht mit leeren Händen heimkehren, denn sonst droht ihnen selbst die Deportation …

Natürlich hat der Mythos seine Finger im Spiel, was die Investigatoren auch früher oder später entdecken werden. Doch den hätte es fast nicht gebraucht. Die Unmenschlichkeit der großen Säuberung und des stalinistischen Regimes werden nicht nur ausführlich erklärt und thematisiert, sondern sind auch im gesamten Szenario spürbar. Keiner der Anwesenden ist wirklich glücklich mit der Situation – nicht einmal die Investigatoren. Der Mythos-Gegner ist intelligent gewählt und unterstreicht die Atmosphäre der Ausweg- und Hilflosigkeit gekonnt. Das Szenario bietet darüber hinaus – so es der Spielleiter nicht auf einen Endkampf mit dem Mythos-Gegner anlegt – keinen klaren Ausweg. Die Schrecken der großen Säuberung und die Angst um die eigene Existenz können dafür sorgen, dass zum Ende das Blut Unschuldiger an den Fingern der Investigatoren klebt. Genauso könnten sie sich dessen verweigern, um sich selbst alsbald auf dem Weg zum Gefangenenlager wiederzufinden. „Eiskalte Ernte“ ist damit kein unbeschwerter Ausflug in cthuloide Gefilde, sondern eine schwer im Magen liegende Studie einer für alle Beteiligten grausigen Situation.

Der Band ist dabei gut aufbereitet. Die Einwohner des Sowchos werden ausreichend detailliert vorgestellt und auch die Vorgehensweise des Mythos-Gegenspielers ist ausführlich erklärt. Ansonsten wird das Material als eine Art Sandbox ohne festen Handlungsablauf präsentiert, was Spielern wie Spielleitern absolute Handlungsfreiheit innerhalb des vorgegebenen Rahmens gibt. Unterstützt wird der Spielleiter mit gut gemachten Hand-Outs, Kartenmaterial und vielen zusätzlichen Informationskästen, die das Wissen um die Situation in den 1930ern in Russland deutlich erweitern. Dazu gibt es schlichte, aber ansehnliche Illustrationen und ein aufgeräumtes, großzügiges Layout. Außerdem gibt es gleich acht vorgefertigte Investigatoren, aus denen die Spieler wählen können. Technisch gibt es wahrlich nichts zu meckern.

Fazit: „Eiskalte Ernte“ ist ein gut recherchierter One-Shot, dessen Präsentation auf Spielbarkeit ausgelegt ist. Das Thema und vor allem die Ausweglosigkeit aus der Situation werden allerdings bestimmt nicht jeder Gruppe schmecken. Für experimentierfreudige Spielleiter und Gruppen aber durchaus empfehlenswert.

Eiskalte Ernte

Abenteuerband
Chad J. Bowser, Heiko Gill
Pegasus Press 2021
ISBN: 978-3969280003
80 S., Softcover, deutsch
Preis: EUR 9,95

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