Masken des Nyarlathotep

Epische Kampagnen gehören zu den Aushängeschildern des „Cthulhu“-Rollenspiels. Ganz vorn ist hier der Klassiker „Masken des Nyarlathotep“ zu nennen, der zum ersten Mal vor über 30 Jahren veröffentlicht wurde, damals vom „Dragon“-Magazin als eine der besten Kampagnen aller Zeiten rezensiert wurde (Juni 1990, Ausgabe 158) und 1996 den Origins Award gewann. Inzwischen gelten die „Masken“ als der Maßstab für „Cthulhu“-Kampagnen überhaupt. Die Neuausgabe von „Masken des Nyarlathotep“ bringt die Kampagne auf den aktuellen Regelstand und bietet zudem zahlreiche Überarbeitungen und Ergänzungen. Wie schlägt sich der Klassiker aus heutiger Sicht, und lohnt sich der Kauf für Besitzer einer der älteren Ausgaben?

von Oliver Adam

Die Entstehungsgeschichte hinter „Masken des Nyarlathotep“ ist beeindruckend und könnte fast als Hintergrund für einen „Cthulhu“-Folianten durchgehen: Der Drehbuchautor Larry DiTillio entschloss sich während eines Streiks der Drehbuchautoren im Jahr 1983, auch Rollenspieltexte zu erstellen, um über die Runden zu kommen. In dieser Zeit entstand der Grundtext für die englische Version „Masks of Nyarlathotep“. Als der Streik endete, kehrte DiTillio schließlich zurück zum Fernsehen und erschuf unter anderem Geschichten für die Serien „She-Ra“, „Babylon 5“ und „He-Man and the Masters of the Universe“.

Aufbauend auf dieser Basis wurde „Masken des Nyarlathotep“ mehrere Jahrzehnte lang immer wieder neu aufgelegt und mit jeder Auflage veränderte sich die Kampagne an verschiedenen Stellen. Im Jahre 2018 erschien bei Chaosium schließlich die vollständig überarbeitete und erweiterte Kampagne. Der Originaltext wurde durchgängig revidiert und überarbeitet, auch um die Handlungsschauplätze stärker mit dem historischen Hintergrund zu verknüpfen. An vielen Stellen wurden Handlungsstränge und Hintergründe aufpoliert und klarer herausgearbeitet und sogar zusätzliche Abenteuer eingeflochten. Diese Version gewann dann auch 2019 den begehrten Ennie Award in der Kategorie „Best Adventure“.

Die deutsche Version von „Masken des Nyarlathotep“ wurde über eine Crowdfunding-Kampagne realisiert, die einiges an Bonuscontent wie eingesprochene Handouttexte oder Karten der Nichtspielercharaktere für die Teilnehmer der Kampagnen bereithielt, der jedoch nicht unbedingt notwendig für das Spielgefühl ist. Diese Rezension bezieht sich auf die Retail-Version, die 2022 erschien.

Die Aufmachung der Kampagne kann wirklich als fulminant bezeichnet werden. Das Material erstreckt sich über insgesamt 646 Seiten, verteilt auf 4 Hardcoverbücher, sowie eine Mappe für die zahlreichen Handouts. All das ist in einem stabilen Schuber untergebracht. Die Titelbilder sind der französischen Version der Kampagne entnommen und vermitteln sehr schön die Atmosphäre der Kampagne. Der komplette Innenteil ist vierfarbig gedruckt, was vor allem das Karten- und Handoutmaterial aufwertet. Zahlreiche Illustrationen und Textkästen lockern die Bände auf und sorgen für Lesbarkeit und Übersichtlichkeit. Im Regal macht die Kampagne also schon einmal eine sehr gute Figur. Aber wie schlägt sie sich am Spieltisch?



Das „Buch 1“ gibt einen ausführlichen Einblick in die inhaltlichen Hintergründe der Kampagne, von den Ursprüngen einige Jahrtausende zurück bis zur Gegenwart. Die verschiedenen Kulte werden umrissen und die wichtigen Personen der Kampagne mit einem Kurztext und einem Bild vorgestellt. Zum leichteren Einstieg werden zehn vollständig ausgearbeitete Investigatoren bereitgestellt, die sowohl Startinvestigatoren als auch Nachfolgecharaktere für ausgefallenes Personal sein können. Das alles ist sehr spielleiterfreundlich aufbereitet, sodass man sich bereits frühzeitig ein Bild vom Ablauf der Kampagne machen kann. Der erste Band wird durch ein optionales Prologabenteuer in Peru abgerundet, das neu in die Kampagne aufgenommen wurde. Es spielt vier Jahre vor dem eigentlichen Start der Kampagne und hat das Ziel, einen Nichtspielercharakter, der als Kernaufhänger der Geschehnisse dient, frühzeitig einzuführen und dessen Schicksal mit den Investigatoren zu verknüpfen. Der Ansatz wertet die Kampagne deutlich auf, da der bisherige Einstieg äußerst holprig war und auf dem Ansatz „ein alter Freund schreibt ein Telegramm und bittet um eure Hilfe“ basierte. Bei dem Abenteuer handelt es sich um ein Archäologie-Szenario mit einem Recherchepart am Anfang und einem actiongeladenen Teil unter einer Pyramidenruine mit einem schrecklichen Geheimnis, das auch einige Ekelszenen bereithält. Ein toller Einstieg, der auch unabhängig von der Kampagne gespielt werden kann.

Das „Buch 2“ widmet sich den Kampagnenteilen in Amerika und England. Die Aufteilung der Kapitel (auch der folgenden Bücher) ist sehr übersichtlich und erleichtert die Vorbereitung. Zu Beginn werden die verbündeten und gegnerischen Personen (und auch Monster) vorgestellt. Zudem werden die Handlungsstränge und deren Verknüpfungen sehr übersichtlich beschrieben. Sehr hilfreich sind hierbei Hinweisdiagramme, die kapitelübergreifend aufzeigen, welche Informationsquellen und -pfade es gibt. Diese sind in Anbetracht der zahlreichen Hinweise und Verknüpfungen äußerst unterstützend für den Spielleiter. In bisherigen Aufbereitungen mussten diese Informationen aus den Texten oder aus einer Tabelle (Pegasus-Auflage von 2000) gewonnen werden, sodass die Spielleitung sehr schnell die Übersicht über das Hinweisnetz verlieren konnte.

Der Auftakt des „Amerika“-Kapitels ist das oben genannte Telegramm eines guten Freundes, der den Pfaden einer Expedition folgt und einer großen Sache auf der Spur ist. Als sie den Freund schließlich treffen, sind die Investigatoren auf sich selbst gestellt, da sich dieser in keinem hilfreichen Zustand befindet. Sicherlich gewinnt die Kampagne mit diesem Aufhänger keinen Kreativitätswettbewerb, durch die Einführung des „alten Freundes“ im Prolog ist hier zumindest eine gewisse Verbundenheit der Investigatoren möglich. Die Untersuchungen führen die Investigatoren schließlich auf die Spur der verschollenen Carlyle-Expedition, die in eine weltumspannende und weltbedrohende Verschwörung eingebunden ist. Die Spuren führen in sieben Länder auf fünf Kontinenten, wobei es den Investigatoren selbst überlassen ist, in welcher Reihenfolge sie die Locations ansteuern möchten. Hinsichtlich der Dichte der Spuren und der geografischen Begebenheiten ist ein Ablauf entsprechend der Buchkapitel wahrscheinlich, die Storyline der Kampagne ist aber auch robust genug, eine vollkommen andere Vorgehensweise abzubilden.

Nach den Vorkommnissen in Amerika, kann es die Investigatoren nach England verschlagen, wo der Nebel und die Düsternis Londons die Kulisse für die Konfrontation mit einem nahezu unantastbaren Magier bilden. Zudem besteht die Gefahr, dass die Untersuchungen bemerkt werden und dadurch die Rolle der Gegenspieler zu einem aktiven Part umschwenkt. Zwei optionale Nebenszenarien, die nichts mit der Kampagne zu tun haben, blähen diesen Part hier etwas auf, sodass der Spielleiter diese bei Bedarf auch weglassen könnte.

In „Buch 3“ reisen die Investigatoren nach Ägypten, das den Dreh- und Angelpunkt der Kampagne bildet und sie mit Menschenmassen, fremdländischen Sitten und uralten Geheimnissen konfrontiert. Der ansässige Kult „Bruderschaft des Schwarzen Pharao“ ist mächtig, und man kann damit rechnen, dass sowohl Blut als auch Stabilitätspunkte fließen werden. Die Hinweise im „Ägypten“-Kapitel sind deutlich enger miteinander verbunden als in Amerika und England zuvor. Es geht um ein Ritual, die antike Königin Nitocris wiederzubeleben und eine mögliche direkte Konfrontation mit Nyarlathotep in der Knickpyramide. Am Ende des Kapitels sind die Investigatoren tief in die Begebenheiten der Kampagne verstrickt, da sie Nyarlathoteps Absichten erahnen können und zumindest erste Hinweise gefunden haben, wie diese verhindert werden können.



Verschiedene Hinweise aus den anderen Kapiteln führen die Investigatoren nach Kenia (Mombasa und Nairobi) und über eine Begegnung mit den Ureinwohnern zum geheimnisvollen Berg des Schwarzen Windes, wo sie unter Umständen einem Ritual der Geburt eines Gezüchts des Nyarlathotep beiwohnen können. Die beiden Abenteuer des Buches sind vollgepackt mit Actionelementen und geizen nicht mit Mythoskonfrontationen und -gefahren. Es ist gut möglich, dass einige Investigatoren die zahlreichen Bedrohungen nicht überstehen werden. Zum Glück gibt es im Kapitel 1 vorgefertigte Charaktere sowie Hinweise an den Handlungsschauplätzen, wie NSC rekrutiert werden können. Für mich bilden die Kapitel in Kenia und Ägypten die Highlights der Kampagne, da sie spannende Schauplätze aufdecken und eine direkte Konfrontation mit dem Mythos bieten.

Das abschließende „Buch 4“ führt die Investigatoren in das ausgedörrte Inland von Westaustralien, wo sie auf einen Hauptwidersacher in einer unterirdischen Stadt der Yithianer treffen. Die allerersten Versionen der Kampagne hatten noch kein Australien-Kapitel, dieses kam erst deutlich später ergänzend hinzu. Teilweise sprach man auch vom „verlorenen Kapitel“. Die Erkundung der Stadt der Großen Rasse nimmt einen großen Teil des Abenteuers ein, sodass der Spielleiter darauf achten sollte, die extreme Fremdartigkeit der Location zu betonen und das Kapitel nicht in einen Dungeon-Crawl abgleiten zu lassen. Highlight für mich ist das Aufeinandertreffen mit einem außerirdischen Wesen, das eigene Ziele verfolgt und dennoch von unschätzbarem Wert für die Investigatoren sein kann.

Bei den meisten Gruppen wird das „China“-Kapitel den Abschluss der Kampagne bilden. Sie treffen auf einen starken Kult und finden in dem letzten geistig gesunden Mitglied der Vorgängerexpedition eine bedeutende Informationsquelle und einen mächtigen Verbündeten. Hier führen alle Spuren zu einem großen Ganzen zusammen, und es gilt ein letztes Mal, die Pläne Nyarlathoteps zu vereiteln. Es ist ein fulminanter, erderschütternder oder sogar -zerstörender Showdown auf einer abgelegenen Insel und bildet den krönenden Abschluss der Kampagne.

„Masken des Nyarlathotep“ ist eine gewaltige Kampagne mit einem sehr weitreichenden und manchmal auch – über die optionalen Abenteuer – abschweifenden Kampagnenbogen und richtet sich dabei an Spieler, die Initiative zeigen und Durchhaltevermögen besitzen. Auch die Anforderungen an die Spielleitung sind dabei enorm. Zahlreiche Charaktere, Spannungsfäden und Hinweisketten müssen überblickt und verflochten werden. Gerade an einer abwechslungsreichen Dramaturgie sollte der Spielleiter arbeiten, da die Wurzeln der Kampagne in den Frühzeiten des Rollenspiels und als Produkt eines Serien-Drehbuchautoren immer wieder aus dem Glanz der Neuauflage durchscheinen. So fallen einige Szenarien in ein wiederkehrendes Klischee: neue Stadt, bösen Kultableger finden, beobachten und bekämpfen.

Dabei sind die Überarbeitungen und Ergänzungen der Kampagne wirklich hervorragend. Insbesondere die Hinweisdiagramme sind Gold wert. Dies alles macht diese Neuauflage zur besten Version von „Masken des Nyarlathotep“ überhaupt.

Fazit: Die epische und weltumspannende Kampagne „Masken des Nyarlathotep“ findet in dieser besonders wertige Neuauflage seine Krönung. Die 646 vierfarbig gedruckte Seiten, verteilt auf vier Hardcoverbücher, sowie eine Mappe mit zahlreichen Handouts in einem Schuber sind beeindruckend und den Preis von knapp unter 100 Euro absolut wert. Inhaltlich führen die aktuellen Erweiterungen und Ergänzungen zu einer deutlich runderen und moderneren Kampagenanmutung, auch wenn es sich im Kern weiterhin um einen typischen cthuloiden Kulte-Plot handelt – nur eben über fünf Kontinente verteilt. Die umfangreichen neuen Spielhilfen wie Hinweisübersichten, Kapitelzusammenfassungen und Charakterbeschreibungen erleichtern die Spielleitung sehr, und dennoch sind die Anforderungen aufgrund der Länge der Kampagne, der umfangreichen Hinweisketten sowie der vielen Nichtspielercharaktere enorm. Wer DIE typische „Cthulhu“-Kampagne sucht, ist bei „Masken des Nyarlathotep“ an der richtigen Stelle. Und auch Besitzer einer der Vorauflagen (egal in welcher Sprache) können bedenkenlos zugreifen, da die Erweiterungen und Ergänzungen einen deutlichen Mehrwert bieten.

Masken des Nyarlathotep
Abenteuerkampagne
Larry DiTillio, Lynn Willis, Mike Mason, Lynne Hardy, Paul Fricker, Scott Dorward
Pegasus Press 2022
ISBN: 978-3-96928-029-4
646 S., Hardcover im Schuber, deutsch
Peis: EUR 99,95

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