Gamma Draconis

„Gamma Draconis“ oder „Etamin“ ist der Name eines Sterns, der von der Erde etwa 150 Lichtjahre entfernt ist. Der Mangaka Eldo Yoshimizu und der Autor Benoist Simmat betiteln damit ihre neueste Schöpfung, die als Manga-Thriller im Okkultismus-Gewand daherkommt. Astrologie trifft auf eine europäische und japanische Esoterik-Fantasie-Geschichte. Kann das als Leseereignis gelingen?

von Daniel Pabst

„Gamma Draconis“ ist ein Manga von Eldo Yoshimizu und Benoist Simmat, der in diesem Jahr bei Carlsen Manga erschienen ist. Eldo Yoshimizu ist als Mangaka bislang kaum in Erscheinung getreten, doch nach seinem Zweiteiler „Ryuko“ (2018 ebenfalls bei Carlsen Manga erschienen) präsentiert er den Leserinnen und Lesern einen Okkultismus-Thriller, der in Europa und Japan spielt. Das Szenario hat der französische Journalist und Autor Benoist Simmat entworfen. Das klingt nach einer abenteuerlichen Mischung, die sich über 260 Seiten entfaltet und als Einzelband angekündigt wurde. Vorhang auf für einen Geheimtipp dieses Jahres:
 
In der ersten Szene sehen wir den Big Ben in London bei Nacht. Genauer: das British Museum. „Los geht’s!“ lässt uns sodann eine mysteriöse, in einen sehr engen Ganzkörperanzug gekleidete Frau wissen, während sie ins Museum einbricht. Ihr Ziel: den „Spiegel von John Dee“ stehlen. Es folgt eine rasante Flucht über die Themse und durch die Kanalisation, bis wir den Auftraggeber sehen, der verschwörerisch am Telefon sagt: „Endlich können Sie sich mit den ‚Engeln‘ unterhalten“. Eingebettet wird der Prolog der Geschichte von Benoist Simmat durch die sehr detaillierten und perfekt in Szene setzenden Zeichnungen (wie für einen Manga üblich allein in Schwarz-Weiß gehalten), die einen in den Bann ziehen …

Der Manga ist aufgeteilt in zwei Akte. Im ersten wird uns die Protagonistin Aiko Moriyama vorgestellt, die religiöse Kunst an der Sorbonne in Paris studiert, und im zweiten Akt steht die Findung der Unsterblichkeit bevor. Okay, was für ein weiter Handlungssprung! Wie kann es dazu kommen? Nun, zunächst einmal ist Aikos Studium nicht so wie es auf den ersten Blick scheint. Es entpuppt sich früh als Tarnung. Denn in Wirklichkeit ist sie an der Universität, um ihre esoterischen Kenntnisse aus ihrer japanischen Tradition zu vervollkommnen und sich mit Eingeweihten, wie ihrem Professor, über die unterschiedlichen Methoden und Wirkweisen des japanischen und europäischen Okkultismus auszutauschen. Gut für sie, dass ihre Kommilitonen davon nichts wissen, und sie ungestört durch Bibliotheken, abgelegene französische Bücherläden sowie kirchliche Gebäude schlendern kann. Doch ehe sie ihre wahre Bestimmung gefunden hat, ereignet sich eine mysteriöse Anschlagsreihe, von der auch ihr Professor nicht verschont bleibt. Wer ist dafür verantwortlich?

Neben Aiko hat „Gamma Draconis“ eine zweite Protagonistin: Die taffe Polizistin Janne Pauwels, die im Rahmen ihres Fachgebiets „Bekämpfung von Finanzkriminalität“ dem Finanzier Julian Bedford auf die Schliche gekommen ist. Bei ihren Ermittlungen überschneiden sich Jannes und Aikos Wege zufällig, und sie werden zu gemeinsamen Ermittlerinnen. Dass Janne allergisch auf Esoterik ist, ist dabei das kleinste Problem der beiden. Denn schnell öffnet sich eine kriminelle Parallelwelt, in der neben Okkultismus und Verschwörungen auch sonderbare neue Technologien eine Rolle spielen. Und welche Rolle spielen dabei Aikos Familienangehörige? Welche Geheimnisse warten auf sie in ihrer Heimat Osaka? Warum wird sie – wie von Geisterhand – vor Anschlägen bewahrt? Wie passt das Ganze zu dem Einbruch zu Beginn des Mangas?

An „Gamma Draconis“ ist das Auszeichnende nicht unbedingt die sich entwickelnde Handlung, in die Aiko sogartig hineingezogen wird. Denn die Handlung kennt man so oder ähnlich beispielhaft aus Werken Dan Browns, die spätestens mit den Kinofassungen berühmt wurden. Vielmehr zeichnet diesen Manga die klare und detaillierte Zeichenkunst aus. Dabei spielt Eldo Yoshimizu mit Schattierungen und verleiht jeder Seite neuen Charme. Man darf hierbei keine zeichnerischen „Experimente“ erwarten, sondern erhält einen Stil mit klarer Bildsprache und Aufbau. Besonders scharf gezeichnet sind die getreuen Abbildungen der Gebäude, sowie die Gesichter der Charaktere. Das kommt nicht von ungefähr: Eldo Yoshimizu ist in erster Linie bekannt geworden durch seine Bildhauerei und Werkschau im öffentlichen Raum, die er einem Studium an der Universität der Künste in Tokyo folgen ließ. Dieser eher untypische Weg für einen Mangaka kommt jetzt seinen Werken in besonderer Weise zugute.

Die Handlung des Mangas wird geleitet von starken Frauenfiguren, die keine Furcht zeigen. Selbst in den dunkelsten Zeiten (und Zeichnungen) lassen sie einander nicht im Stich. Dieser sehr eindrucksvollen Erzählweise „geopfert“ wird dafür das Geschehen in der Außen- und Gefühlswelt. Die Erzählung wirkt insgesamt vorherbestimmt und bei all den dunklen Mächten, die in „Gamma Draconis“ wirken, mag es die Leserinnen und Leser verwundern, dass nicht noch mehr Menschen sterben. Dies mag vielleicht daran liegen, dass das Werk zwar als Einzelband angekündigt worden ist, laut Machern jedoch eine Fortsetzung nicht ausgeschlossen ist. Ob es einer Fortsetzung bedarf, mag jede und jeder für sich hiernach selbst entscheiden.

Leseprobe

Fazit: Der Manga „Gamma Draconis“ ist handlungstechnisch keine Überraschung und erinnert von der Erzählweise an einen Comic von früher, der einem durch Zufall in die Hände geraten ist. Zeitsprünge sind rar, Nebenplots gibt es kaum und die Kapitelaufteilung ist sehr klassisch. Aber die Art und Weise, wie Eldo Yoshimizu den Thriller aus der Feder von Benoist Simmat in Szene gesetzt hat, lässt ihn aus der Masse herausstechen. Den Szenen und Charakteren verleiht er allein durch seine Schwarz-Weiß-Zeichnungen gekonnt eine Grundstimmung, die tief abtauchen lässt in eine Parallelwelt des Mystischen. Deswegen ist dieser Manga ein „Geheimtipp“ dieses Jahres. Wer hätte das gedacht?

Gamma Draconis
Manga
Eldo Yoshimizu, Benoist Simmat
Carlsen Manga 2021
ISBN: 978-3-551-71748-1
260 S., Softcover, deutsch
Preis: EUR 16,00

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