Die Gefangenen von Santobal

An wenigen Orten ist man dem Todesgott Boron näher als auf Santobal. Doch nicht weil der Glaube einen so stark werden lässt, sondern weil die Arbeit in der berüchtigten Diamantenmine einen schneller vor die Seelenwagen Rethon treten lässt als man glaubt. Umringt von Mördern und üblen Schurken, gepeinigt von sadistischen und brutalen Aufsehern wünscht sich ein jeder, er wäre niemals in die Fänge Al?Anfas geraten und dorthin geschickt worden. Doch die Helden haben sich entschieden, freiwillig diesen Weg anzutreten. Aber warum?

von Ansgar Imme

Man hat bei der fünften Edition von „Das Schwarze Auge“ den Eindruck, dass gar nicht so viele Abenteuer erscheinen. Aber mit „Die Gefangenen von Santobal“ erschien bereits das 32. Abenteuer in etwa 3 1/2 Jahren – also gar keine so schlechte Ausbeute. Mit den klassischen 64 Seiten – der „DSA5“-Vorgabe für Abenteuer – stellt der Autor David Schmidt eine interessante Idee vor, die es bei „DSA“ eigentlich noch nicht gab (eine Abwandlung im Uralt-Abenteuer „Verschollen in Al?Anfa“ zeigte nur einen ähnlichen Einstieg). David Schmidt hat als sogenannter Alveraniar für „DSA5“ bereits mehrere Abenteuer verfasst, vorrangig die dem „Aventurischen Boten“ beiliegenden „Heldenwerk“-Abenteuer, aber auch Beiträge zu den „DSA5“-Regelwerken und Quellenbänden.

Der Band beginnt mit der üblichen kurzen Einleitung aus minimalem Inhaltsverzeichnis, Erklärungen zum Aufbau, einem kurzen Vorwort sowie einem Glossar von Begriffen für das Südmeer und Al?Anfa. Während letzteres gut gelungen ist und gerne noch etwas ausführlicher hätte sein dürfen, kann man das Inhaltsverzeichnis künftig getrost weglassen. Wenn man nur die drei Hauptkapitel aufführt (Ausnahme: das PDF, wo man auf einzelne Abschnitte zugreifen kann), ist eine Orientierung über dieses „Inhaltsverzeichnis“ letztlich nicht möglich, was gerade in diesem offenen Abenteuer notwendig wäre. Da zudem ein Index fehlt, fällt eine Orientierung schwer und führt zu ständigem hin- und herblättern. Dies zieht sich leider bereits durch alle Abenteuer-Bände der fünften Edition. Und der Verlag scheint auch nicht gewillt, dies abzustellen.

Der Einstieg ins Abenteuer ins ungewöhnlich: Die Helden sollen sich als Gefangene ausgeben und in die al?anfanische Gefängnismine Santobal auf der abgelegenen Insel Sukkuvelani im östlichen Perlenmeer bringen lassen. Hierzu werden vier Einstiege beziehungsweise Aufträge vorgeschlagen, die als Auftraggeber vom Horasreich, über einen Gelehrten und eine Händlerin, bis zu al?anfanischen Granden gehen. Ziel ist in drei Fällen die Befreiung einer wichtigen Person, die zum Teil auch noch Geheimnisse hütet (etwa Wissen über einen Schatz) und einmal die Aufwiegelung eines Aufstands gegen die Aufseher, um der Herrscherin der Mine als politische Gegnerin zu schaden. Alle vier Vorschläge sind in der zur Verfügung stehenden Kürze gut aufbereitet, aber es stellt sich doch die Frage, ob diese jeweils ausreichend Motivation für eine Gruppe Helden bieten, um in ein als ausbruchssicher geltendes Gefängnis unter der schrecklichen Herrschaft Al?Anfas einzubrechen, welches noch nie jemand lebend verlassen hat. Vermutlich wird die größte Motivation vorliegen, wenn eine den Helden sehr nahe stehende Person (Schwester, Bruder, Eltern, Geliebte/r) dorthin verschleppt wird, sodass ein persönlicher Grund vorliegt.

Für die Vorbereitung ihres Eindringens können die Helden beziehungsweise Spieler Erkundigungen zu Sukkuvelani und Santobal vornehmen. Dazu werden Fertigkeitsproben als Methode vorgeschlagen, die je nach Erfolg unterschiedlich detailreiche Informationen liefern. Auch für den späteren Weg werden ein Vorgehen und mögliche Kontakte vorgeschlagen, welche gute Ideen liefern, aber eher zu knapp gehalten sind. Allein aus diesem Bereich könnte man fast ein eigenes Abenteuer machen.

Die Gefangennahme selbst ist kurz und schlicht gehalten, weist aber auch verschiedene Vorschläge auf, wie diese vor sich gehen kann. Auf dem Weg per Schiff nach Sukkuvelani kann man Mitgefangene kennenlernen und es kann zu einem Fluchtversuch durch diese kommen, was je nach Vorgehen der Helden das Abenteuer erheblich ausweiten kann. Das Abenteuer sieht allerdings nicht vor, dass sich die Helden irgendwie selbst auf die Insel begeben und zur Mine durchschlagen. Begründet wird dies mit starken al?anafanischen Patrouillen in den Gewässern der Insel, den gefährlichen Menschenfressern oder dem lebensbedrohlichen Dschungel. Je nach Gruppe mag dies durchaus zu Diskussionen führen, weil sich die Spieler in ihren Ideen und ihrer Freiheit beschränkt fühlen.

Im nächsten Abschnitt werden zunächst die Insel, die verschiedenen Orte (der Hafen Saphirna, die Plantagen Mandurcario und Especianola, der Dschungel mit den menschenfressenden Utulus) sowie die Mine Santobal beschrieben und als Handlungsschauplätze genauer skizziert. Nach einem kurzen Kennenlernen des Gouverneurs der Insel werden die Gefangenen am nächsten Tag mit einer Versorgungskarawane durch den Dschungel zur Mine gebracht. In einem Gefecht mit den Utulus können sie sich beweisen und Pluspunkte bei den Söldnern sammeln. Eine Flucht ist allerdings nicht vorgesehen. Der Teil der Ankunft und des Transports bietet wenig Freiheiten und Möglichkeiten für die Helden und Spieler. Es ist mehr ein kurzes Kennenlernen und Erleben von Personen und Situationen.

Auf Seite 24 von 64 ist man endlich in Santobal und damit der Mine angekommen. Hier lernen die Helden die Intendantin als Herrscherin der Mine, die Aufseher sowie nach und nach die Mächtegruppen unter den Gefangenen kennen. Ein erster Konflikt ergibt sich mit den Piraten als einer der vier Gruppen sowie bei der Wahl des Schlafplatzes in einer abgesperrten Höhle, die als Unterkunft für die Gefangenen dient. Je nach Vorgehen der Helden setzt sich auch die weitere Handlung fort.

Es folgt zunächst die Beschreibung der Diamentenmine mit Hintergrund, Aufbau, Geschichte und dem kompletten Aufbau und dem Grundriss sowohl des Geländes als auch der Mine selbst. Hier geht der Autor gut auf anwesende Personen wie auch Abläufe der Mine ein sowie Besonderheiten, die im Lauf der Handlung wichtig werden können (etwa schlecht gewartete Geschütze). Auch die Gebäude auf dem Minengelände erhalten ihre Beschreibung inklusive jeweils anwesender Wärter oder Gefangener sowie gegebenenfalls spezieller Geheimnisse des Gebäudes. Alle Gebäude sind beschriftet und finden sich auf dem Plan mit Nummern wieder, zur Mine selbst gibt es auch einen rudimentären Übersichtsplan. Spätestens hier fällt einem leider negativ der unpassende Aufbau des gesamten Abenteuers auf: Anstatt Beschreibungen zu Orten, Personen etc. entweder zu Anfang des jeweiligen größeren Abschnitts oder in den Anhang des Abenteuers zu packen, springt man immer von kurzer Szene zu Hintergrundbeschreibung wieder zu einer Szene. Verbunden mit dem fehlenden Index beziehungsweise Inhaltsverzeichnis ist dies gerade für ein recht freies Abenteuer extrem hinderlich für den Spielleiter. Eine bessere Struktur wäre hier hilfreich gewesen.

Die folgende Abschnitte stellen mit Routinen und Disziplinen im Minenalltag (was passiert zu Sonnenaufgang, zur Mittagszeit etc.) sowie den Vorstellungen der Wächter und Mitgefangenen ebenso Hintergründe dar. Der Tagesablauf der Mine ist sowohl für Spielleiter als auch Spieler zur Orientierung sehr hilfreich und erlaubt, Aktivitäten zuzuordnen und Pläne daran anzupassen. Auch unregelmäßige Ereignisse wie Nachschub oder Durchsuchungen, Bestrafungen und ihre Ausprägung oder der Umgang mit Spitzeln wird ausreichend beschrieben und helfen dem Spielleiter, ausreichend Abwechslung zu erzeugen, aber auch auf verschiedene Handlungen der Spieler einzugehen und Konsequenzen aufzuzeigen.  Mit den Wächtern und Mitgefangenen werden die Antagonisten der Helden vorgestellt. Dabei finden sich sowohl Angaben zu den Orten, wo sie zu finden sind als auch Besonderheiten zur Darstellung und ihrem Schicksal, was alles den Spielleiter gut unterstützt. Wirklich toll sind einerseits die „sprechenden“ Namen der Gefangenen als auch die Porträts der zugehörigen Figuren, die ideal zu den Beschreibungen passen.

Nach den Vorstellungen von Orten und Personen wird ein roter Faden der Handlung vorgeschlagen. Hierbei werden alle Aufträge aus dem Abenteuerbeginn bedacht, sodass man als Spielleiter einige Ideen hat, wie die jeweiligen Handlungsstränge weiter zu verfolgen sind. Dazu werden auch optionale Ereignisse vorgeschlagen, die während der Zeit in der Mine stattfinden können, wobei drei davon als vom Autor wichtig angesehen werden, die möglichst vorkommen sollten, um die Handlung voranzutreiben und die Spannung zu schüren. Aber auch die weiteren Vorschläge können den Druck auf die Helden erhöhen oder für dramatische Höhepunkte sorgen. Dabei sind sie aber so gut gestaltet, dass je nach Intensität der Handlung und Wunsch der Spieler mehr oder weniger eingebaut werden kann. Nachteilig ist auch hier höchstens zu sehen, dass diese alle nur kurz angerissen werden und auf den Spielleiter somit einiges an Arbeit zur Ausarbeitung wartet.

Auch für das Entkommen aus der Mine werden verschiedene Möglichkeiten vorgeschlagen, die sowohl kombinierbar, als auch einzeln funktionieren. Für jeden Vorschlag wird sowohl auf die Grundidee und deren Voraussetzungen, was man dafür benötigt oder woher man Informationen bekommt, eingegangen als auch auf alternative Vorgehens sowie eventuelle Komplikationen. Dem Spielleiter wird hier einiges an Unterstützung geboten. Dazu wird für die Überzeugung einer größeren Anzahl Menschen auch noch ein Regelvorschlag in Form eines Punktesystems für den Ruf der Helden geboten.

Die verschiedenen Möglichkeiten zum Entkommen kulminieren in der Rebellion gegen die Aufseher. Verschiedene wichtige Punkte, die es zu erfüllen oder bedenken gilt, werden erläutert und aufgezeigt, wie Erfolge oder Misserfolge die weitere Handlung fortführen. Betrachtet werden sowohl der Aufstand in der Mine, die Flucht durch den Dschungel wie schließlich das Entkommen von der Insel. Positiv ist zu sehen, dass nur wenige Punkte ein „Muss“ darstellen und je nach Spielrunde weniger oder mehr genau ausgespielt werden können.

Insgesamt bietet das Abenteuer trotz der recht simplen Idee des Gefängnisausbruchs eine Menge Ideen, die für viele Spielabende reichen können, wenn die Spielrunde aktiv mitspielt. Aber auch für sehr gezielt vorgehende Spieler hat das Abenteuer noch genügend Überraschungen, auch wenn manche interessante Idee dann auf der Strecke bleibt. Dazu bieten unzählige NSC Anlass zum Streiten, Verhandeln, Bündnisse schmieden und Kämpfen. Es ist eine gute Mischung, die für viele Spieler und Helden Herausforderungen bereithält, ob es nun um Rollenspiel, Kämpfe oder Pläne schmieden geht.

Allerdings wird der Spielleiter auch ordentlich gefordert: Flexibilität beim Eingehen auf Handlungen der Helden durch die sehr offene Handlung, das Darstellen verschiedenster Personen und auch die Ausarbeitung vieler Handlungsstränge, die oft – aufgrund der Begrenzung der Seiten – nur angerissen werden können; die Warnung „hohe Komplexität“ für den Spielleiter auf dem Bandumschlag ist nicht unbewusst gewählt. Die oft nur sehr kurze und knapp gehaltene Beschreibung vieler Passagen sowie die zerfaserte Struktur stellen auch die größten Nachteile dar. Gerade an letztere hätte man im Lektorat oder vom Verlag aus noch etwas arbeiten können, was dem Spielleiter die Arbeit (in Verbindung mit einem echten Inhaltsverzeichnis) wirklich erleichtern würde. Der Beschreibung des Inhalts auf dem Band könnte man übrigens vermuten, dass es vielleicht um die Erkundung der Mine geht – wer das erwartet, wird enttäuscht sein. Die Pläne sind eher knapp und übersichtlich gehalten und decken vor allem das Minenareal und weniger die Mine selbst ab.

Fazit: Trotz kleinerer Schwächen in der Struktur und Aufbau hat David Schmidt ein tolles Abenteuer geschaffen, mit dem man viele Abende Spaß haben und seinen Helden mitzittern kann. Spannung, Abwechslung, Dramatik werden en masse geboten, wobei je nach Schwerpunktsetzung der Gruppe das Pendel stärker in Planung, Kampf oder Rollenspiel schlagen kann. Spätestens zum Sommer bei warmen Temperaturen ;-) sehr empfehlenswert.

Die Gefangenen von Santobal
Abenteuerband
David Schmidt
Ulisses Spiele 2019
ISBN: 3963311223
64 Seiten, Softcover, deutsch
Preis: EUR 14,95

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