Cthulhu – Einstiegsbox

Einsteigerboxen haben im Rollenspiel eine lange Tradition. Die von „Cthulhu“ begann aber erst vor wenigen Wochen, denn obwohl das System schon über 40 Jahre auf dem Buckel hat, ist die erste „Einstiegsbox“ (so der offizielle Name) erst kürzlich erschienen. Mal schauen, ob sich das Warten gelohnt hat.

von Morgath

Da die meisten Rollenspieler „Cthulhu“ kennen dürften, sei für den unkundigen Leser nur kurz erwähnt, dass es sich um ein Rollenspiel handelt, das auf den Werken des amerikanischen Schriftsteller H. P. Lovecraft („den Meister des Horrors“) und dessen Nachfolgern basiert. „Cthulhu“ sah sich selbst stets als Horror-Rollenspiel, wobei ich die Einstufung als Mystery-Rollenspiel zutreffender finde. Vielleicht ist das der Grund, warum auf der Einstiegsbox das Wort Horror nicht zu finden ist. Theoretisch kann es in jedem Setting, also zu jeder Zeit und an jedem Ort, gespielt werden. Klassischerweise spielen die meisten Abenteuer aber in den USA in den 1920ern. So auch die Abenteuer in dieser Box.

Die Box kommt in einer schlanken Schachtel daher und ist prall gefüllt; unter anderem finden sich darin drei Bücher, ein Spielleiterschirm, zahlreiche Dokumente wie Handouts, Karten und Charakterbögen und sogar ein Set mit allen polyhedrischen Würfeln. Alles ist liebvoll in einem einheitlichen Stil gestaltet. Die Handouts sind toll, aber leider wurden vereinzelt mehre Handouts auf ein Blatt gepackt, sodass man das Blatt den Spielern nicht geben kann, solange diese nicht beide Handouts im Abenteuer erlangt haben. Die Bücher sind komplett in Farbe. Die Bilder wirken teilweise zu sehr computerbearbeitet. Die Deckel der Bücher bestehen wie auch der Innenteil aus Hochglanzpapier. Die Bücher erwecken daher den Eindruck einer Broschüre. Härtere Deckel wären schön gewesen. Es gibt auch fünf vorgefertigte Charaktere. Dass einer davon Archäologe ist und Dr. Jones heißt, finde ich allerdings albern. Schade ist auch, dass auf die vorgefertigten Charaktere in den Büchern nicht weiter eingegangen wird.

Nach Empfehlung der Autoren soll man mit Buch 1 anfangen. Dabei handelt es sich um das Soloabenteuer „Allein gegen die Flammen“, das bereits vor ein paar Jahren erschienen ist. Die Idee ist, dass der Leser beim Spielen des Abenteuers die wichtigsten Regeln lernt. Der Leser schlüpft in die Rolle einer jungen Person, die ihr Heimatstädtchen verlässt, um in Arkham eine neue Anstellung anzutreten. In den ersten Abschnitten des Abenteuers, während man eine Busreise macht, wird man schrittweise aufgefordert, seinen Charakter zu erstellen. Dies geht zwar leicht von der Hand, doch wird man durch dieses Konzept ständig für einige Minuten aus dem Abenteuer gerissen. Denn Busreise und Charakterstellungen haben – mit einer Ausnahme, als der Busfahrer einen fragt, was man macht und man sich dann den Beruf auswählt – nichts miteinander gemein. Mir wäre daher eine andere Lösung lieber gewesen: entweder zu Beginn den Charakter erstellen oder gleich mit einem der vorgefertigten Charakter zu starten.

Letztlich geht dieser Teil des Abenteuers schnell vorbei und das Abenteuer nimmt Fahrt auf. Man strandet in einem Dorf, das von hohen Klippen umgeben ist. Auf der einen Seite sucht man einen Weg, das Dörfchen möglichst bald verlassen zu können, auf der anderen Seite merkt man aber, dass in dem Dörfchen irgendetwas Seltsames vorgeht. Man ist daher ständig hin- und hergerissen, welches Ziel man verfolgen soll. Durch jedes Erlebnis bekommt man ein Puzzlestück mehr, ohne dass man dem Geheimnis wirklich auf den Grund kommt. Das Abenteuer besteht aus knapp 250 Abschnitten. Es hat mir als Einstieg sehr gut gefallen. Auch neue Spieler dürften damit gut zurechtkommen; doch auch mir als Soloabenteuer-Veteran hat es Einiges geboten. Gut ist auch, dass es praktisch keine Möglichkeiten gibt, das Abenteuer frühzeitig (durch Ableben) zu beenden. Das bedeutet nicht, dass man das Abenteuer überlebt. Im Gegenteil, die Sterberate stufe ich als recht hoch ein, doch tritt der Tod so spät ein, dass man als Leser das Gefühl hat, etwas erlebt und zumindest ein vorgesehenes Ende erreicht zu haben. Bei einem solchen Ende bleiben immer Fragen offen, sodass man Lust hat, das Abenteuer erneut zu spielen oder zumindest nochmal in die Hand zu nehmen.

Wer das Abenteuer dann komplett erkundet und das Konzept dahinter verstanden hat, der merkt aber, dass es im Grunde ziemlich spielerfeindlich ist. So führen beispielsweise Erfolge (bestandene Proben oder das Herausfinden von Geheimnissen) dazu, dass die Wahrscheinlichkeit, das Abenteuer zu bestehen, sinkt. Auch besteht der schnellste Weg, das Abenteuer erfolgreich zu bestehen, darin, den Hauptplot zu vermeiden. Dann hat man das Abenteuer zwar bestanden, aber das Geheimnis um das Dörfchen nicht wirklich gelüftet. Geht man hingegen in den Hauptplot rein, dann erfährt man das Geheimnis, nimmt dieses aber mit einer hohen Wahrscheinlichkeit mit ins Grab. Der vermutliche Königsweg (bei dem man möglichst viel erfährt und trotzdem überlebt) ist besonders perfide: Man muss eine geheime Fähigkeit lernen, um dann im entscheidenden Moment die Probe nicht zu bestehen. Bei solchen Mechanismen ist man geneigt, von einer Themenverfehlung zu sprechen. Doch würde man damit dem Abenteuer nicht gerechnet, denn die Mechanismen wurden gezielt eingesetzt, um das besondere Flair von „Cthulhu“ hervorzuheben. „Cthulhu“ ist ein Rollenspiel, bei dem die Spieler selten die Kontrolle über die Ereignisse haben und oft der Willkür großer Mächte ausgeliefert sind. Das größte Happy End ist oft das Überleben. Trotz der aufgezählten Kritikpunkte hat mir das Abenteuer richtig gut gefallen. Es ist absolut spielenswert und ein guter Einstieg in die Welt oder vielmehr die Atmosphäre von „Cthulhu“.

Das zweite Buch beinhaltet die Regeln für das Gruppenrollenspiel. Obwohl es mit 24 Seiten verhältnismäßig dünn ist, beinhaltet es doch alle Regeln, die man fürs Spielen benötig, einschließlich Charaktererschaffung, Proben und Kampfregeln. Da die meisten Leser die „Cthulhu“-Regeln wohl kennen, sei nur kurz erwähnt, dass es sich um ein W100-System handelt. Die Regeln sind einfach, zweckdienlich und auch für das langfristige Spielen völlig ausreichend. Soweit ich das beurteilen kann, sind die Regeln auch seit Jahrzehnten im Kern unverändert und natürlich praxiserprobt. Man kann wenig daran kritisieren, trotzdem hätte ich mir an der ein oder anderen Stelle eine Modernisierung gewünscht. So finde ich es immer noch unhandlich, dass man Schadenswürfe mit mindesten zwei, noch dazu meist verschiedenen Würfeln macht (ein bis mehr Würfel für die Waffe und einen für den Schadensbonus des Investigators, basierend auf seiner Stärke). Hier hätte man problemlos eine Lösung finden können, sodass am Ende nur ein Würfel geworfen werden muss.

Auch stört mich, dass die Fertigkeiten einen Grundwert haben, der unabhängig von den Attributen ist. So hat beispielsweise jeder in der Fertigkeit Ausweichen einen Grundwert von 20 und das unabhängig davon, ob seine Geschicklichkeit sehr hoch oder sehr niedrig ist. Doch wie gesagt, die Regeln sind praxiserprobt und erfüllen ihren Zweck sehr gut.

Das dritte Buch beinhaltet schließlich drei Gruppenabenteuer.

„Der Bücherwurm“ ist für einen Spielerleiter und ein bis maximal zwei Spieler gedacht. Ich fand diese Größe zunächst ungewöhnlich, da das klassische Rollenspiel meist aus drei bis fünf Spieler besteht, doch im Grunde ist es eine gute Idee, denn häufig haben Neulinge das Problem, genügend Spieler zu finden. So genügt ein weiterer Interessent, um sich gleich ins Abenteuer zu stürzen zu können. Im Abenteuer geht es darum, dass vor etwa einem Jahr ein Mann spurlos verschwunden ist. Vor ein paar Tagen bricht jemand in sein Haus ein und stiehlt ein paar seiner Bücher. Es gilt nun herauszufinden, was dahintersteckt. „Der Bücherwurm“ ist ein schönes Abenteuer, das aufgrund der überschaubaren Orte und Personen leicht zu leiten ist, aber trotzdem eine überraschende Wendung am Ende bietet. Für meinen Geschmack ist es aber überraschend regellastig. So verlangt man beispielsweise vom Spieler häufig eine bestandene Probe auf Charme, Erscheinung oder Finanzkraft, damit Personen mit ihm reden und abenteuerrelevante Informationen preisgeben. Das hat nichts mit Rollenspiel zu tun, wie ich es verstehe und praktiziere.

Das zweite Abenteuer „Am Rande der Finsternis“ ist das erste Gruppenabenteuer, das für drei bis fünf Spieler vorgesehen ist. Ein sterbender Freund beichtet den Spielern, dass er vor ca. 45 Jahren auf einem einsamen Bauernhof mit Freunden okkulte Séancen abhielt und dabei eine böse Kreatur beschworen habe. Das „gesichtslose Ding mit den tausend Mäulern“ sei an das Bauernhaus gebunden, doch mit seinem Tod fürchte er, dass der Bann ende und das Wesen freikomme. Dann würde großes Leid über die Anwohner kommen. Die Spieler sollen nun das vollbringen, was sich der Freund Zeit seines Lebens nicht traute: zum Bauernhaus zu gehen und einen Weg zu finden, wie man das Wesen in seine Sphäre zurückschicken kann. Bei dem Abenteuer handelt es sich um ein atmosphärisches Detektivabenteuer mit einem ordentlichem Actionfinale, welches – zumindest für Neulinge – vermutlich nicht ganz leicht zu leiten sein wird. Es ist aber gut aufgebaut, übersichtlich gegliedert und bietet zahlreiche Tipps für den Spielleiter. In meinem Bekanntenkreis wird das Abenteuer sehr geschätzt. Beim Alter einiger Personen gibt es einige Unstimmigkeiten, doch lassen sich diese leicht beheben. Insgesamt ein gutes bis sehr gutes Abenteuer. Ich bin allerdings etwas verwundert darüber, dass man das Übersinnliche dieses Abenteuers gleich zu Beginn im Auftrag preisgibt und nicht wie üblich erst am Ende.

Das dritte Abenteuer heißt „Blues für Marnie“ und entführt die Spieler in das Nachtleben von Harlem in den Zeiten der Prohibition. Beim Besuch eines (illegalen) Nachtclubs überschlagen sich die Ereignisse. Am Ende mischen zahlreiche Parteien auf der Suche nach einem Trompetenspieler mit. Das Abenteuer hat von allen die dichteste Atmosphäre, da es historische Aspekte (Prohibition) mit kulturellen (Blues) kombiniert und dabei auch noch den Zeitgeist (Rassismus) einfließen lässt. Auch hier gilt: Ich kann nicht beurteilen, wie gut Spielleiter-Neulinge mit der Komplexität des Abenteuers zurechtkommen, doch wer die anderen Abenteuer aus der Box gespielt hat, sollte genügend Erfahrung gesammelt haben, um es angehen zu können.  

Kommen wir zur Gesamtbewertung: Auch wenn man natürlich immer etwas findet, das man kritisieren kann (ich habe sogar recht viel gefunden), so kann man die „Einstiegsbox“ letztlich nur in den höchsten Tönen loben. Der Einstieg wird dem Neuling leicht gemacht. Die Idee, den Leser vom Soloabenteuer über die Kleingruppe zur gewöhnlichen Gruppengröße zu führen, ist lobenswert. Alle Abenteuer sind gut bis sehr gut und wissen auf ihre Art zu gefallen. Die Regeln sind so wie sie sein sollen: kurz und kompakt. Das Material ist üppig, und der Käufer erhält echt viel für sein Geld.

Die „Einstiegsbox“ kann ich auch uneingeschränkt erfahrenen Spielern empfehlen. Diese haben höchstens das Problem, dass alle Abenteuer bereits früher in anderen Publikationen erschienen sind und sie daher das ein oder andere Abenteuer vielleicht schon haben. Aber rein inhaltlich gesehen, sind die Abenteuer allesamt auch für erfahrene Spieler geeignet.

Fazit: Selten war es so einfach, einem Produkt eine uneingeschränkte Kaufempfehlung zu geben. Wer sich für „Cthulhu“ interessiert oder es bereits spielt, kann beruhigt zugreifen.

Cthulhu – Einstiegsbox
Grundregelwerk
Heiko Gill, Mike Mason, Paul Fricker, u. a.
Pegasus-Spiele 2023
ISBN: 978-3-96928-068-3
Box mit u. a. 3 Bücher mit 56, 24 und 78 Seiten, deutsch
Preis: 24,95 EUR

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