Verbotene Künste

Magie ist Macht. Wer über Macht verfügt, ist gefährlich. Daher werden andere diese Macht mit Misstrauen betrachten oder versuchen, sie für sich auszunutzen. Magie ist gefährlich. Daher werden andere versuchen, diese Magie aufzuhalten. Und wer die Magie benutzt, um Macht zu gewinnen, ist durch diese Macht selbst in Gefahr. Um mit der Gabe zu leben und zu überleben, muss man also mehr können und wissen als andere, immer mehr – selbst wenn dieses Wissen verboten sein sollte ...

von Adaon

Der Anteil an erwachten Charakteren in einer Rollenspielrunde ist meist recht hoch. Da tatsächlich jedoch in der Sechsten Welt im Jahr 2078 nur etwa ein Prozent der Bevölkerung erwacht ist und von diesen wiederum zwei Drittel keine nennenswerten Fähigkeiten besitzen und vom letzten Drittel wiederum nur zwanzig Prozent Vollzauberer sind, ist es verständlich, dass die Magie – bei aller Faszination dafür – etwas ist, mit dem viele Metamenschen noch keine direkte Berührung hatten. Wenn wir mal davon absehen, dass erst das Erwachen die Rückkehr von Elfen, Zwergen und Orks ermöglichte, die ja nach fast siebzig Jahren fester Bestandteil des Lebens geworden sind!

Das sehr komplexe Thema der Magie und ihrer Erforschung in der Sechsten Welt wird in diesem Buch in ein paar übersichtlichen Kapiteln verteilt. Dabei fällt beim ersten Blick in das Inhaltsverzeichnis auf, wie viele Unterabschnitte jedes Kapitel mitbringt. Die Texte wirken dadurch sehr strukturiert und gründlich recherchiert – und gleichzeitig fühlt man sich etwas erschlagen von der Tiefe des angebotenen Materials. Es wird gründlich darauf hingewiesen, dass es nur wenig gibt, was bei der Magie tatsächlich feststeht oder sich nicht verändern kann – zumindest in der Wahrnehmung der Magier und Adepten. Für die Teilnehmer am Spieltisch allerdings werden die Regeln klar und deutlich dargestellt, und bleiben bei aller Tiefe an Möglichkeiten angenehm leicht am Spieltisch anwendbar, wie von der 5. Edition allgemein gewohnt.

Das erste Kapitel, „Ein Blick auf das Unsichtbare“, soll dem mundanen Beobachter dabei helfen, festzustellen, wann Magie gewirkt wird und wie sich diese auswirken kann. Die VMT (Vereinheitlichte Magie-Theorie) und ihr Einfluss auf die Sicht auf Magiewirker und deren Denkweise wird vorgestellt. Als Quasi-Standard der Wahrnehmung von außen wird weiterhin vorgeschlagen, dass es gewisse visuelle Manifestationen gibt, die häufig auftreten. Doch wird auch auf mögliche Ausnahmen hingewiesen. Hilfreich ist dieses Kapitel vor allem für die Ausarbeitung der Darstellung der eigenen Magie eines Spielercharakters – und für den Spielleiter, um die Magie „im Alltag“ sowohl als etwas Besonderes als auch eben deutlich verschieden auftretend zu beschreiben.

Das zweite Kapitel, „Magische Meisterschaft“, beginnt mit einer Vielzahl neuer Vorteile für den fortgeschrittenen Magieanwender. Für jeden Vorteil sind als Voraussetzungen recht hohe Werte in einer oder mehreren Fertigkeiten oder gar Attributen nötig, sodass viele dieser Vorteile bei der Charaktererschaffung noch nicht zur Verfügung stehen werden. Interessanterweise gibt es auch einen Vorteil zur Tierführung namens „Sprawl-Zähmer“, welcher keine magischen Fähigkeiten voraussetzt. Wer etwas Magie im Leben seines Charakters will, ohne diesen zum Vollmagier zu machen, erhält in diesem Kapitel sowohl für das Prioritäten- als auch das Karmasystem interessante Spezialisten für einen magischen Teilbereich. Weiter geht es mit neuer Metamagie für Initiaten (das Highlight dürfte hier eine Möglichkeit des Wechsels der Tradition des Magieanwenders sein) sowie einer Handvoll neuer Zauber und schließlich einer neuen Geisterart: Dunkelgeister. Sie benötigen totes Material, um gerufen zu werden – einen toten Baum, Staub oder auch eine Leiche. Richtig, das heißt, dass nun auch Nekromagie als Tradition zur Verfügung steht.

Auf diese und andere wird im nächsten Kapitel, „Traditionen“, dann auch eingegangen. Ein paar Updates und Optionen zu bereits vorgestellten Traditionen, zwölf neue Traditionen (darunter die Tarot-Tradition, die einem erwachten Charakter Vorteile für die Nutzung des Shadowrun-Tarots gibt), neue Schutzgeister und die Möglichkeit, Traditionen zu mischen, runden das Kapitel ab.

Als nächstes bekommt dann die beliebte „Blutmagie“ ihr eigenes Kapitel. Das sie beliebt ist, kann man daran erkennen, dass für jede Person, die als Blutmagier erkannt und abgeliefert wird, ein Kopfgeld gezahlt wird. Die Draco Foundation nimmt eigentlich jeden Erwachten Gefangenen entgegen, in dessen Aura sich die Nutzung dieser Magie nachweisen lässt. Denn Blutmagie hinterlässt Spuren an der Seele. Immer. Warum wird sie dann überhaupt benutzt und warum ist sie eine Verlockung für Magiebegabte? Mit einem Wort: Macht. Mächtigere Zauber, stärkere Geister, weniger Entzug, alles auf Kosten eines Opfers. „Verbotene Künste“ stellt mit neuen Zaubern und Ritualen nette Möglichkeiten vor, diese Macht voll auszunutzen. Mit jedem Opfer wird der Magier stärker werden. Wenn er bereit ist, den Preis zu bezahlen.

Danach geht es mit „Wo die Wilden Wesen wohnen“ auf eine Rundreise durch die Geisterwelt. Allerdings nicht durch die Metaebenen, sondern auf der Erde und zu den Geistern, die hier leben. Zumeist werden Geister aus einer Metaebene hierher beschworen. Manche reisten freiwillig auf die materielle Ebene, als Forscher oder Suchende. Doch lange verborgen waren die Geister dieses Landes und unserer Vergangenheit, der Berge und der Meere, der Wälder und der Luft. Langsam erwachten auch sie – wenn sie nicht schon immer existierten. Wie dem auch sei: Auch diese Geister sind mächtig. Sie können nicht beschworen werden, denn sie sind schon da. Wenn man laut genug ruft, können sie es hören und kommen näher. Allerdings sollte man dann etwas haben, das man diesem Geist auch anbieten kann, denn sonst könnte er über diese Störung ... verärgert sein.

Das letzte Kapitel in „Verbotene Künste“ lautet „Fortgeschrittene Alchemie“. Nicht nur neue Möglichkeiten für Reagenzien, Ausrüstung für Alchemisten, die diese wirklich interessant machen, und neue Präparate und Erzeugnisse werden hier beschrieben, sondern auch hilfreiche Hinweise in die Denk- und Spielweise für alchemistische Charaktere. Und es gibt auch finstere und regelrecht Übelkeit erregende Berichte aus den dunklen Kellerlaboren der toxischen Alchemisten, die ganz bestimmte Reagenzien brauchen ...

Auch bei diesem Regelbuch gibt es wieder einen hohen Standard an Qualität, interessante Kurzgeschichten, die abschließenden Tabellen am Ende des Buches, die gesuchte Informationen leicht auffindbar machen, wunderbare Illustrationen und, natürlich massenhaft Material für jeden, der mehr Magie in seiner (Spiel)Welt will. Die wirklich wenigen Fehler, wie falsche Wörter im Text oder fehlende Begriffe (die vierte meta-magische Technik für optionale Islamische Magiewirker auf Seite 67 zum Beispiel), fallen daher wieder umso deutlicher auf, stören den Gesamteindruck aber nicht wirklich. Und dieser ist durchweg positiv. Allerdings: Für empfindliche Gemüter sind große Teile dieses Buches wirklich nicht geeignet.

Fazit: Wissen ist Macht. Doch bringt „Verbotene Künste“ überhaupt weiteres Wissen, wenn es mit dem „Straßengrimoire“ schon eine grundsätzliche Regelerweiterung zur Magie gibt? Nun, es erweitert auf jeden Fall die Sichtweise auf die Magie, bringt – natürlich – massenhaft neue Vorteile, Kräfte, Zauber und Möglichkeiten, um den eigenen erwachten Charakter noch individueller auszugestalten oder um dem Spielleiter gruselige Wesen aus den finsteren Ecken der Welt an die Hand zu geben. Wenn man wirklich nur ein Magie-Ergänzungsbuch kaufen möchte, empfiehlt sich das „Straßengrimoire“ (das nun auch als Softcover für 10,- Euro zu haben ist). „Verbotene Künste“ baut darauf auf, vertieft, geht in die Dunkelheit. Und für den günstigen Preis ist es sein Geld auch mehr als wert. Braucht man dieses Buch also? Nicht unbedingt. Doch man wird den Kauf nicht bereuen, wenn die Magie in der eigenen „Shadowrun“-Welt eine größere Rolle spielen soll.

Verbotene Künste
Quellenbuch
Kevin Czarnecki, Jeff Halket, Jason M. Hardy, Mike Messmer, Dylan Stangel, Thomas Willoughby u.a.
Pegasus Spiele 2017
ISBN: 978-3-95789-134-1
209 S., Hardcover, Deutsch
Preis: EUR 19,95

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