Tiny Dungeon

Manchmal kann es so einfach sein. Mit „Tiny Dungeon“ legt der noch junge Verlag Obscurati Publishing die deutsche Variante des gleichnamigen Spiels von Gallant Knight Games aus dem Jahr 2018 vor. Und eines darf ich vorwegnehmen: Das Regelgerüst ist mehr als simpel. Lohnt sich die Anschaffung dennoch?

von André Frenzer

Zur Übersetzung kam dabei natürlich die aktuelle, zweite Edition des Rollenspiels. Diese enthielt im Vergleich zur Vorgängervariante einige optionale Regeln und ein paar Regelklarstellungen. Und nun gibt es – Crowdfunding sei Dank – also auch eine deutsche Variante von „Tiny Dungeon“. Das Cover verspricht aufregende Fantasy-Abenteuer – eine nahezu typische Heldengruppe irrt durch einen Dungeon, während im Hintergrund bereits das Boss-Monster lauert. Das weiß zu gefallen, und die Neugier ist geweckt.

Das Grundregelwerk umfasst insgesamt 204 Seiten im handlichen A5-Format. Dabei fällt bereits beim Blick ins Inhaltsverzeichnis auf, dass den Grundregeln nur wenige Seiten spendiert wurden. Und tatsächlich lassen sich die Regeln knapp zusammenfassen. Eine Probe wird mit 2W6 ausgeführt. Zeigt einer der Würfel eine 5 oder 6, gilt die Probe als erfolgreich. Fertig. Für vorteilhafte Situationen, Unterstützung oder passende magische Gegenstände gibt es einen dritten Würfel, während Nachteile zum Abzug eines Würfels führen. Und das war es. Dieser simple Würfelmechanismus wird für alle möglichen oder unmöglichen Situationen – Widerstandswürfe, soziale Interaktion, Kämpfe – angewandt.

Ähnlich simpel verhält es sich mit der Charaktererschaffung. Nachdem man sich für eine Rasse entschieden hat (hier „Vermächtnis“ genannt), darf man noch ein wenig Hintergrund ausgestalten und einige „Merkmale“ wählen. Diese Merkmale stehen allen Charakteren gleichermaßen offen und spezifizieren die Charaktere ein wenig. So gibt es Merkmale, die Bonuswürfel in bestimmten Kampfsituationen verleihen, magische Fertigkeiten bieten oder zusätzliche Trefferpunkte bringen. Selbst wer die Merkmalsliste aufmerksam studiert, ist nach zehn Minuten mit der Charaktererschaffung fertig.

Es schließen sich einige Regeln an, die als „optional“ bezeichnet werden, in meinen Augen aber zumindest essenzielle Beispiele sind. Denn erst jetzt finden sich einige Zaubersprüche verschiedener Klassen wieder, ein paar Regeln für Rüstungen, Kampfstile, Regeln für Tiergefährten und ein paar Kniffe, um die Kämpfe taktisch interessanter zu machen. Selbst wenn man die Regeloptionen nicht nutzt, so sind sie doch als Beispiele mehr als hilfreich: Denn „Tiny Dungeon“ überlässt bewusst viele Details dem Spielleiter, um seine eigene Spielwelt zu formen. So gibt es keine magischen Gegenstände, keine Preisliste für mundane Ausrüstung und kaum Zaubersprüche.

Diesen wenigen Regelseiten folgt ein kurzes Spielleiterkapitel, in dem auf die Freiheiten des Spielleiters knapp eingegangen wird. Diesem schließt sich ein recht umfangreiches Bestiarium an. Kreaturen werden – ebenso wie die Spielercharaktere – mit wenigen Informationen dargestellt. So gibt es Lebenspunkte sowie – teilweise einmalige – Merkmale, welche die Kreatur auszeichnen und ihr Vor- oder Nachteile verschaffen. Mit dem Bestiarium lassen sich die gängigsten Genres abdecken; ein besonderes Augenmerk wird allerdings auf Dinosaurier gelegt.

Herzstück und zugleich umfangreichster Part des Grundregelwerks stellen allerdings eine Sammlung diverser Mikroszenarien dar. Dabei handelt es sich um verschiedene, kurz vorgestellte Kampagnenhintergründe. Jedes Mikroszenario beschreibt dabei eine Ausgangslage, in der sich die jeweilige Kampagnenwelt befindet, und bietet dann einige Abenteueraufhänger. Dabei gibt es klassische Themen wie eine „Games of Thrones“-Variante oder den ewigen Krieg zwischen mächtigen Magiern, aber auch seltsamere Konzepte. So wird mit „Der Turm der Götter“ ein Setting in einem mehrere Meilen hohen Turm präsentiert, dessen Ebenen von verschiedensten Kreaturen und Mechanismen bevölkert werden. Daneben gibt es Settings mit Luftschiffen und Piraten, überlappenden Geisterwelten oder auch Dinosauriern. Einige Mikroszenarien liefern dabei zusätzliche Merkmale für die Charaktere, neue Ausrüstungsoptionen oder mehr Kreaturen für das Bestiarium und sorgen so für ein wenig mehr Abwechslung. Die Mikroszenarien sind dabei von schwankender Qualität und sicherlich nicht alle sofort einsetzbar.

Ich bin nach der Lektüre ein wenig hin- und hergerissen. Der Probenmechanismus ist bestechend simpel, was gerade für einen „Lückenfüller“ oder einen One-Shot natürlich eine hervorragende Idee ist. Gerade für Spiele auf Conventions eignet sich „Tiny Dungeon“ sicherlich hervorragend, denn nach zwei Minuten sind alle notwendigen Regeln erklärt – und oftmals zugleich die Charaktere erschaffen. Selbst für mittelfristiges Spiel gibt es mit der Option, neue Merkmale zu erwerben, zumindest ein wenig Abwechslung. Auf Dauer erscheint mir der Mechanismus allerdings als zu dünn, die Möglichkeiten der Charakterentwicklung als zu eingeschränkt. Außerdem sind die Einflussmöglichkeiten der Charaktere auf den Probenerfolg nun einmal sehr eingeschränkt, was sicherlich auch nicht jedermanns Sache ist.

Den Mikroszenarien und dem nahezu völligen Fehlen von „crunchigen“ Elementen wie Zaubersprüchen oder magischen Gegenständen stehe ich ebenfalls eher zwiespältig gegenüber. Einerseits bietet „Tiny Dungeon“ so eine grandiose Spielwiese für Bastler und „Do-it-yourself“-Spielleiter, die bei ihren Kreationen dank des simplen Mechanismus auch nicht ständig auf das Spielgleichgewicht achten müssen – das ohnehin kaum auszuhebeln sein dürfte. Andererseits bringt damit gerade ein sehr simples System, dass zum Zwischendurchspielen einlädt, einen ganzen Haufen Arbeit für den Spielleiter mit sich. Selbst die Mikroszenarien sind oft zu oberflächlich, um mehr als reine Gedankenimpulse zu sein. Damit spricht „Tiny Dungeon“ in Summe wohl eher den Bastler und Kreativen unter den Spielleitertypen an.

Optisch ist „Tiny Dungeon“ simpel, aber gut gelungen. Der Band ist vollfarbig und die Zeichnungen in einem einheitlichen, leicht comiclastigen Stil gehalten. Das Layout ist sehr aufgeräumt – einspaltig mit großen Kapitelüberschriften. Die Übersetzung liest sich flüssig und das Korrektorat hat tadellos gearbeitet. Technisch kann Obscurati Publishing mit seinem Erstling also voll überzeugen.

Fazit: „Tiny Dungeon“ bietet eine Charaktererschaffung in Minuten, einen extrem simplen Regelkern und ermöglicht damit ein schnelles Losspielen. Einzig dem Spielleiter bleibt noch reichlich Mühe. Wer diese nicht scheut, erhält allerdings einen netten Rollenspielbaukasten, dessen Langzeittauglichkeit ich allerdings bezweifeln möchte. In Summe sicherlich einen Blick wert für alle, die ein Rollenspiel für zwischendurch suchen und ein wenig Kreativität mitbringen.

Tiny Dungeon – Zweite Edition
Grundregelwerk
Alan Bahr, Sascha Schnitzer u. a.
Obscurati Publishing 2021
204 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 29,90

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