Steampunk – Erinnerungen an Morgen

„Steampunk“, das meint jene literarische Strömung, die ein Alternativbild des viktorianischen Zeitalters zeichnet, im Stil des Retro-Futurismus. Fantasy und Science-Fiction reichen sich dabei die Hände, Action und Abenteuer dominieren die Handlungen. Mit der Anthologie „Steampunk – Erinnerungen an Morgen“ wird im Fabylon Verlag eine ganze Buchreihe zum Thema aus der Taufe gehoben. Mit bunt gemischten Kurzgeschichten sollen die Leser ans Konzept im Allgemeinen und in die Reihe im Besonderen heran- und eingeführt werden.

von Simon Ofenloch

„Steampunk“, das war nach dem High-Fantasy-Boom im Windschatten der Filmtrilogie um J. R. R. Tolkiens „Der Herr der Ringe“, Harry-Potter-Variationen wie Artemis Fowl und Epigonen romantischer Blutsauger eine weitere Verheißung für die Fantasy-Literatur, noch vor der Schwemme an Dystopien in Orientierung an „Die Tribute von Panem“. An filmischen Vorläufern hat es auch hier nicht gemangelt. Am aufsehenerregendsten in jüngster Zeit womöglich „Die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen“. Allerdings war diese Kino-Produktion auf breiter Front ebenso wenig erfolgreich wie die aufwändige Philip-Pullman-Verfilmung „Der goldene Kompass“. Die neue Euphorie ums Phänomen „Steampunk“ mögen noch am ehesten die erfolgreichen „Sherlock Holmes“-Neuauflagen durch Regisseur Guy Ritchie befeuert haben. Einen großen, weit gespannten Hype, wie ihn die „Der Herr der Ringe“-Filme dem High-Fantasy-Genre bescherten, war aber auch ihr Verdienst nicht.

Nichtsdestotrotz kam „Steampunk“ in der Literatur vor etwa zwei Jahren zu einer neuen, durchaus beachtlichen Blüte. Vor allem auch in der deutschen Buchbranche setzte man auf neue Geschichten im Stil des Retro-Futurismus, auf Abenteuer in einem verklärt dargestellten Dampfzeitalter, in dem verrückte Erfindungen oder fantastische Magie das Geschehen bestimmen. Neben einigen deutschen Originalveröffentlichungen kamen auch immer mehr Übersetzungen vor allem aus dem angloamerikanischen Raum auf den empfänglichen Markt.

Auch im Portfolio des Kleinverlags Fabylon sollen „Steampunk“-Publikationen vertreten sein. Dazu wurde eine entsprechende Buchreihe unter Betreuung von Herausgeberin Alisha Bionda aufgelegt. Den ersten Band der Reihe stellt die Anthologie „Steampunk – Erinnerungen an Morgen“ dar. In ihr sind Prologe von zukünftigen Roman-Erscheinungen und komplette, in sich abgeschlossene Kurzgeschichten enthalten. Sechs Beiträge sind es insgesamt, jeder von einem anderen, bereits etablierten deutschen Schreibkünstler verfasst.  In ihren Arbeiten zeigt sich die Vielfalt der Möglichkeiten, sich dem Thema „Steampunk“ und seinen Vorgaben zu nähern. Dazu bringt jeder seinen ganz eigenen Stil mit, seine ganz eigene Handschrift.

In Guido Krains „Steam is Beautiful“ kehrt der mittellose Erfinder Charles Eagleton an den Ort seiner Kindheit zurück, um dort eine Erbschaft anzutreten, die finanziell seine letzte Rettung bedeutet. Doch der Nachlass seines Onkels birgt einige Überraschungen. Neben machtvollen Erfindungen, wie einem Roboter mit dem Antlitz einer Haushälterin, dem Akzent einer Französin und der Sensibilität eines Bierkutschers, hat der Verwandte Charles auch zwielichtige Kundschaft hinterlassen. Die auch vor Gewalt nicht zurückschreckt. Je mehr Charles zur Gegenwehr gezwungen wird und je mehr er sich in die Unterlagen und Hinterlassenschaften seines Onkels vertieft, umso mehr verändert er sich auch selbst. Und das ist erst der Anfang von allem, was noch kommen mag: in Guido Krains Roman „Argentum Noctis“, dem dritten Band der „Steampunk“-Reihe im Fabylon Verlag.

In „Der Automat“ von Bernd Perplies hingegen wird nicht weit ausgeholt, um eine nachfolgende größere Geschichte vorzubereiten. In einem gut überschaubaren Handlungsrahmen gerät ein eigentlich skrupelloser Attentäter, der zuverlässigste seiner Zunft, an einen Auftrag, der ihn zum Zweifeln bringt. Und an ein Opfer, das ihm über den Dächern Londons Erschütterndes enthüllt.

Sören Preschers anschließende Geschichte hat der Anthologie ihren Titel gegeben. Außerdem handelt es sich bei seinem Beitrag „Erinnerungen an Morgen“ um die Einführungsgeschichte zum Roman „Der Flug der Archimedes“, der auch mal als „Die Prophezeiungen von London“ angekündigt wird und als Band 4 der „Steampunk“-Reihe bei Fabylon vorgesehen ist. Inhaltlich geht es um einen Arzt namens Henry Curton, der Prinzipien des Mesmerismus als Behandlungsmethode anwendet und dabei in unbekannte Welten vorstößt, vergangene wie zukünftige. Doch eine geheimnisvolle Kontrollinstanz wacht über seine Taten.

Tanya Carpenter, die ihren Geburtsnamen Tanja Zimmermann konsequent ins Englische übertragen hat, hat die Novelle „Varieté D’Immortal“ zur Sammlung beigesteuert. In ihr geht es um Varieté-Künstler, die ein mörderisches Experiment wagen. Um des Lebens willen?

In K. Peter Walters „Bringen Sie uns den Kopf von Abu al-Yased!“ hat das britische Empire ein besonderes, dampfbetriebenes Schiff im Einsatz, um einem gefürchteten Piraten das Handwerk zu legen. Über Wasser und Land geht die Jagd. Und die Geschichte über den Tod hinaus.

Zuletzt gibt es noch eine so bezeichnete „Bonusstory“ von Andreas Gruber: „Der Maya-Transmitter“. In dieser Kurzgeschichte geht es um eine vor Jahren im mexikanischen Urwald verschollene Forschungsgruppe, die einer Erfindung der Maya auf der Spur war. Im Labyrinth unter einer Dschungel-Pyramide mag des Rätsels Lösung liegen.

Die versammelten Kurzgeschichten und Vorgeschichten zu nachfolgenden Romanen sind allesamt interessant, spannend und unterhaltsam, unterscheiden sich aber in Originalität und handwerklicher Qualität. Während die erste Geschichte etwas gedehnt erscheint, unnötig langatmig und gelegentlich etwas schwerfällig formuliert, ist „Der Automat“ von Bernd Perplies in nahezu allen Belangen ein kleines Meisterwerk. Charakterzeichnung, Stimmung und Stil, alles auf den Punkt. Dafür dürfte die Geschichte diejenigen weniger überraschen, die „Blade Runner“ und/oder Philip K. Dicks korrespondierende Buchvorlage kennen. Sören Preschers „Erinnerungen an Morgen“ behandelt ein attraktives Thema und liefert eine schöne Ausgangsidee, die einiges an Potenzial birgt. Zudem ist der Beitrag ganz ordentlich geschrieben, wenn auch etwas zäh in der Entwicklung. Bei „Varieté D’Immortal“ kommt es zu einem Massenmord im Dienste der Wissenschaft. Das muss nicht jedem gefallen, zumal dieses Handlungsmotiv in beinahe zynischer Weise als schockierender Clou der Geschichte zur Anwendung kommt. In K. Peter Walters „Bringen Sie uns den Kopf von Abu al-Yased!“ muss man sich schon konzentrieren, um den Aufbau der Erzählung zu verstehen, den Bewusstseins- und Ortswechseln folgen zu können. Und für die „Bonusstory“ muss man bereit sein, das Konzept „Steampunk“ durchaus weiter gefasst zu akzeptieren.

Ansonsten kann die Anthologie mit allem aufwarten, was es braucht, um überzeugend zu unterhalten:  Spannung, Humor, Grusel, Überraschungen, philosophische Anstöße, Romantik und Action. Das alles in schmuckvoller Gestaltung, mit einem gelungenen Covermotiv, das höchstens etwas zu dunkel geraten sein mag, und tollen Innenillustrationen von Crossvalley Smith. Jeder Beitrag ist mit mindestens einer Grafik des Künstlers versehen.  

Beim Druck ist übrigens die Reihenfolge der Kapitel durcheinander geraten. Anders als im Inhaltsverzeichnis angegeben, folgt auf Sören Preschers Beitrag Tanya Carpenters „Varieté D’Immortal“ vor K. Peter Walters „Bringen Sie uns den Kopf von Abu al-Yased!“. So steht auch die falsche Illustration vor Tanya Carpenters Text, ein Bild des Schiffes, mit dem Mahumad Abu al-Yased gejagt wird. Vor K. Peter Walters Beitrag steht dafür die zu „Varieté D’Immortal“ zugehörige Grafik.

Fazit: „Steampunk – Erinnerungen an Morgen“ ist eine abwechslungsreiche Zusammenstellung sorgfältig ausgewählter Beiträge mit hohem Unterhaltungswert. Mal mehr, mal weniger originell, mal mehr, mal weniger raffiniert erzählt. Im Ganzen aber ein schöner Auftakt zur „Steampunk“-Reihe im Fabylon Verlag. Zusätzlich bereichernd: Covermotiv und Innengrafiken von Crossvalley Smith.


Steampunk – Erinnerungen an Morgen
Urban-Fantasy-Anthologie
Alisha Bionda (Hrsg.)
Fabylon Verlag 2012
ISBN: 978-3-927071-69-8
232 S., Softcover, deutsch
Preis: EUR 14,90

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