Shadowrun: Für alle Fälle Kincaid

Mein Name ist Kincaid, Jimmy Kincaid. Ich war mal ein Cop und ein Magier und in beidem verdammt gut. Zumindest hielt ich mich für gut. Aber dann hatte ich einen Zusammenstoß mit einem verdammten Blutsauger und danach ging alles den Bach runter. Heute arbeite ich als Privatdetektiv in Puyallup. Es mag nicht die glamouröseste Ecke von Seattle sein, nein, seien wir ehrlich, es ist ein ziemliches Scheißloch, aber ich bin hier aufgewachsen. Das sind meine Straßen, meine Leute. Es fühlt sich gut an, hier unterwegs zu sein und zu helfen. Und die Leute wissen das zu schätzen. Sie wissen: Auf Kincaid kann man zählen, egal wie klein der Fall auch sein mag.

von Bernd Perplies

So oder so ähnlich würde sich Jimmy Kincaid, der elfische Schnüffler, vielleicht selbst vorstellen, wenn man ihn in einer Bar im Seattle Mitte der 2070er treffen würde und er in redseliger Stimmung wäre. Jimmy Kincaid, ein Mann, der sich so sehr in der Rolle des einsamen, heruntergekommenen hard boilded detective sieht, dass er die Welt durch seine Cyberaugen sogar absichtlich in Grautöne taucht, ist der Protagonist des ersten „Shadowrun“-Romans, den der langjährige „Shadowrun“-Verlag Pegasus auf den deutschen Markt bringt. Damit geht für die Fans des dystopischen Pen-&-Paper-Rollenspiels eine fast zehnjährige Durststrecke zu Ende, die Begann, als 2007 mit „Für einen Handvoll Daten“ von Stephen Dedman der letzte US-Roman und 2008 mit „Digitaler Albtraum“ von Thorsten Hunsicker der letzte Roman aus deutscher Feder bei Fantasy Productions erschienen war.

Bei „Für alle Fälle Kincaid“ von Russell Zimmerman handelt es sich nicht um den ersten der neuen US-„Shadowrun“-Romane der Ära Catalyst Game Labs. Das wäre „Fire and Frost“ von Kai O’Connal gewesen, der 2014, ein knappes Jahr zuvor, herauskam. Doch das macht nichts, denn obwohl der vorliegende Roman sich hier und da auf frühere „Shadowrun“-Beiträge seines Autors bezieht, steht er ziemlich abseits des aktuellen Metaplots des Rollenspielsystems und funktioniert vollkommen als eigenständige Geschichte, die sogar Leser verstehen, die vielleicht seit Jahren keinen engeren Kontakt mehr mit „Shadowrun“ hatten. An den wesentlichen Dingen hat sich in all den Jahren zwischen 2050 (dem Zeitrahmen der ersten Edition) und 2075 (dem der fünften und aktuellen) ohnehin nichts geändert. Die Straßen von Seattle, der prototypischen „Shadowrun“-Stadt, sind immer noch schmutzig, BTL-Chips machen immer noch süchtig, Messerklauen mögen Knarren wie die Ares Predator und die HK 227 und die Matrix, dieser digitale Datenraum jenseits der Realität, ist neonbunt und verrückt.

In dieser Welt lebt nun Jimmy Kincaid, ein Privatdetektiv, wie er im Buche steht. Dass er Schlapphut trägt, die Welt überwiegend in Grauschattierungen wahrnimmt, abhängig von Zigaretten, Aufputschkaugummi, seiner Headware und einem Geist namens Ariana ist – seiner Abschlussarbeit an der Magie-Universität und, wie er gerne selbst sagt, ein ausgelagerter, besserer Teil seiner selbst –, lässt tief blicken und zeugt von Zimmermans Meisterschaft, eine vielschichtige Figuren anzulegen. Tatsächlich könnte man lange an Kincaid heruminterpretieren und wie es seinem Autor gelingt, Genre-Klischees zu nehmen und ihnen einen interessanten Twist zu verleihen. Figuren sind überhaupt die Stärke des Romans, egal ob der schwarze Zwergendetektiv Pinkerton, das Orkmädchen Gem, der Vampirjäger Martin DeVries – natürlich Niederländer – oder der Adrenalinjunkie und Decker/Alley-Cat-Kurier Gentry. Obwohl sie alle Kincaids Weg nur kreuzen, statt länger an seiner Seite zu bleiben, hinterlassen sie einen Eindruck und erfüllen das Setting mit Leben.

Die Handlung lässt sich Zeit und schlenkert mal nach links und mal nach rechts, statt gradlinig auf ein Ziel zuzujagen. Das passt irgendwie zu einem noir-Roman, auch einem cyber noir, aber man muss sich darauf einlassen. Gerade die ersten paar Kapitel erschweren einem das etwas, denn hier werden unzusammenhängende Einzelereignisse aus Kincaids Leben in praktisch episodischer Form erzählt. Dabei wirkt Kincaid leider gerade im ersten Kapitel wie ein veritabler Super-Runner, der geradezu lässig eine Drogenhölle auseinandernimmt. Glücklicherweise wird dieses Charakterbild mehr und mehr zersplittert, auch wenn Kincaid bis zum Schluss ein Macher und Könner bleibt, der trotz seines Status als ausgebrannter Magier übrigens erstaunlich gut zaubern kann (ob das regelkonform ist?) und stets noch ein Ass im Ärmel hat.

Diese ersten Kapitel sorgen durchaus alle dafür, die Figur und ihr Umfeld plastischer werden lassen, und gerade „Shadowrun“-Neulingen vermitteln sie obendrein ein gutes Bild der Straßenatmosphäre des Rollenspiels. Dennoch werfen sie mit jeder Seite mehr die Frage auf, wann es denn endlich losgeht. Antwort: Auf S. 66. Dort wird Kincaid dann zu seinem alten Magie-Professor gerufen, der ihn um Ermittlungen in einer Mordsache bittet. Weil es sich bei dem Opfer um einen gemeinsamen Bekannten handelt, sagt Kincaid natürlich zu. Seine Ermittlungen werden ihn nicht nur in die schmutzigsten Gossen von Puyallup führen, sondern zugleich ein düsterer Trip in seine eigene Vergangenheit werden. (Der Klappentext zum Roman ist hier übrigens etwas irreführend: Um ein „mysteriöses File“ geht es in dem Roman nicht wirklich.)

Das liest sich tatsächlich mit jeder Seite besser und am Ende hat man eine Geschichte vor sich, die angenehm rund ist und keine Fragen offen lässt – sieht man von einem paar vagen Verweisen in Richtung Manazyklen und Metaplot des Rollenspiels ab, die man aber geflissentlich überlesen kann, weil sie so beiläufig eingestreut sind. Alles in allem ist „Für alle Fälle Kincaid“ weniger ein „Rollenspiel-Roman“ – die ja in den Augen Mancher mit dem Makel behaftet sind, nur für Spezialisten interessant zu sein –, sondern vielmehr ein wirklich kurzweiliger Magie-und-Cyberpunk-Roman, irgendwo zwischen „Harry Dresden“ und „Neuromancer“ angesiedelt, der sich weder stilistisch, noch von der Handlung und Atmosphäre vor Phantastik ohne „Label“ verstecken muss.

Abschließend sei noch angemerkt, dass auch die handwerkliche Umsetzung durch Pegasus ein echtes Lob verdient. Das stimmungsvolle Cover wurde noch dem US-Original entliehen. Aber dass hier für knappe 13 Euro ein fadengeheftetes (!) Taschenbuch mit richtig gutem Papier vorliegt, ist schon bemerkenswert und zeigt, dass der Verlag aus einer Ecke – eben dem Rollenspielsektor – kommt, in der man wertige Bücher noch richtig zu schätzen weiß. Nur die Schrift hätte ein klein wenig größer sein können. Die ist schon sehr winzig.

Fazit: Mit „Für alle Fälle Kincaid“ feiert Pegasus einen gelungenen Einstand. Der erste „Shadowrun“-Roman der neuen Generation sieht nicht nur handwerklich gut aus, er bietet auch eine stimmungsvolle Geschichte, in der sich Cyberpunk, Magie und noir-Elemente auf lesenswerte Art und Weise verbinden. Jimmy Kincaid ist ein Held mit Ecken und Kanten, der zwar austeilen kann, aber auch immer wieder einstecken muss und dabei zu einer interessanten und – vor allem im Mittelteil – tiefsinnigen Figur wird. Man wünscht diesem Roman, dass er von mehr als bloß der kleinen Zielgruppe „Shadowrun“ liebender Rollenspieler wahrgenommen würde. Er hat es verdient.


Shadowrun: Für alle Fälle Kincaid
Rollenspiel-Roman
Russell Zimmerman
Pegasus Press 2017
ISBN: 978-3-95789-098-6
320 S., Taschenbuch, deutsch
Preis: EUR 12,95

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