Shadowrun: Karmesin

Das „Shadowrun“-Universum lebt schon seit Langem nicht nur im Rollenspiel, sondern auch in den Romanen, die darüber geschrieben wurden. Auf Deutsch erschien nun „Karmesin“, eine Geschichte über den Elfen-Vampir-Magier Rick „Red“ Lang, der noch vor dem Erwachen Magie erlernte und sich mit seiner düsteren Natur als blutsaugender Unsterblicher auseinandersetzen muss. Doch keine Sorge: Das Buch ist wesentlich angenehmer zu lesen, als diese Einleitung vermuten lässt.

von Adaon

Für jemanden, der schon seit Jahrzehnten tot ist, geht es Rick ziemlich gut: Der Elfen-Vampir lebt in Seattle, ist ein mächtiger Magier, ein erfolgreicher Shadowrunner mit Millionen auf dem Konto und er hat echte Freunde. Doch in einem Leben wie seinem gibt es natürlich auch Verpflichtungen. Als sich die Triade mit dem Auftrag an Rick wendet, einen mächtigen Killer zu jagen, kann er diese Aufgabe zwar erfüllen, muss dann jedoch eine Weile die Stadt verlassen. Es ist das Jahr 2064.

Im nächsten Kapitel erwacht Rick im Jahr 2076 in Chicago. Sein Körper lag 12 Jahre lang im Scheintot, den Vampire erleiden, wenn sie keinen Sauerstoff bekommen; nach einem Kampf gegen eine Insektenkönigin war er verschwunden und für tot gehalten worden. Ein alter Freund, der Ghul Needle, hatte ihn ausgegraben und wiederbelebt. Er hatte Rick bereits im Jahr 2048 aus einer ähnlichen Situation gerettet, nachdem dieser im Jahr 1999 von einem Vampir ausgesaugt und in einen Fluß geworfen worden war. Needles führt eine kleine Ghul-Gemeinschaft unter Chicago und hält diese am Leben, indem sich die Ghule von Fleischgestalten ernähren, also Insektengeistern, die in Metamenschenkörper gebannt wurden und diese verändert und übernommen haben. Dennoch werden die Ghule von Lone Star gejagt, wie Rick am eigenen Leib erfährt, als die Gemeinschaft von einem Einsatzteam überfallen wird. Doch selbst in Ricks geschwächtem Zustand kann der Angriff leicht abgewehrt werden.

In einer für ihn erneut fremd gewordenen Welt erwacht, ohne Wissen um die aktuelle Technologie, mit geschwächter Magie und mit seiner ehemaligen Ausrüstung und seinem Geld längst in alle Winde zerstreut, entscheidet sich Rick, eine Weile bei den Ghulen zu bleiben und diesen zu helfen. Sein Freund Needle setzt dabei die Talente der Ghule gezielt ein: Slim ist ein talentierter Hacker und erhält technische Ausrüstung. Pretty ist eine attraktive Ghulin, die sehr menschlich wirkt, und soweit möglich Kosmetik und Cyberware bekommt, damit sie als Kontakt zur Außenwelt dienen kann. Rick soll sie unterstützen. Im Laufe der Geschichte knüpft der Vampir weitere Kontakte für die Ghulgemeinschaft, und führt einige Runs durch, um an dringend benötigte Vorräte zu kommen und den Ghulen bessere Ausrüstung und Verhandlungsmöglichkeiten zu geben. Dadurch entwickelt sich diese Geschichte eines Überlebenden auch zur Geschichte einer Gemeinschaft Ausgestoßener, die durch den Mut, die Zähigkeit und die Hingabe einiger ihrer Mitglieder und die Hilfe von außen, eben durch Rick, ihre jahrelange Isolation und drohende Stagnation durchbrechen und in ein neues Leben aufbrechen können. Der Protagonist bekommt dadurch die Chance, sich sein altes Leben wieder aufzubauen.

Der Autor schlägt mit „Karmesin“ mehrere geistige Brücken, was beim ersten Lesen gar nicht auffällt. Was tun, wenn man einen lange bespielten, magisch aktiven und mächtigen Charakter hat und mit einer neuen Rollenspiel-Gruppe spielen will? Ein erzwungener langer Schlaf, bei dem der Charakter an Macht verliert, ist da keine schlechte Möglichkeit. Wie erzählt man einem Publikum von der Vergangenheit einer Spielwelt, ohne ständig Rückblenden zu nutzen? Ein Abschnitt, der tatsächlich in der Vergangenheit spielt, Erinnerungen des Charakters aus der Ich-Perspektive, der Besuch von Orten in der Jetzt-Zeit, die damals schon bestand hatten – das alles sorgt dafür, dass sich die Leserin im Roman im Jahr 2076 fühlen und dennoch den Blickpunkt des Charakters aus dem Jahr 2064 nachvollziehen kann. Die technischen Änderungen werden erwähnt, ohne im Vordergrund zu stehen, und die Runs, die durchgeführt werden, sind im „neuen“ Stil der 5. Edition beschrieben.

Auch ethische Fragen werden mit einbezogen, ohne dabei moralisierend zu wirken. Wie reagiert eine kleine Gemeinschaft auf Druck von außen und innen? Wie hält man seine Leute am Leben? Wie können diese mehr sein als „infizierte Monster“? Wie können Infizierte in die Gesellschaft integriert werden? Und wie können Angst und Hass überwunden werden? Diese Fragen werden gestellt, und verschiedene Lösungen werden angeboten und gefunden, doch bleiben der Protagonist und seine Freunde Infizierte und werden damit auch zum Teil durch ihre Krankheit kontrolliert. Der Autor zeigt sowohl die noch menschliche, wenn auch veränderte Seite der Infizierten, als auch das Monster in Menschen-(Elfen, Ghul)-Gestalt in verschiedenen Abstufungen und erlaubt dem Leser so seine eigenen Vorstellungen über die Natur der Bestie im „Shadowrun“-Universum. Dadurch wirkt der Charakter des Protagonisten allerdings manchmal etwas sprunghaft in seinem Verhalten. Doch auch dies passt gut zu einem Rollenspiel, in welchem ein Charakter durch die Darstellung des Spielers manchmal stark abweichende Verhaltenszüge an den Tag legt, wenn es der Geschichte dient.

Fazit: „Shadowrun“ lebt von seinen Charakteren. Denjenigen, die von Spielern zum Leben erweckt werden und diese Erwachte Welt tatsächlich erleben. In den Romanen von „Shadowrun“ sieht man daher die Welt fast immer aus der Sicht eines solchen Charakters, der auch wie ein Rollenspielcharakter wirkt: ein wenig außerhalb von allem anderen stehend auf der einen Seite, nimmt der Leser doch nur durch die Verbindungen dieses Charakters zur wahrgenommenen Welt an dieser überhaupt teil. Und genau das findet in „Karmesin“ statt: Leichte und leicht aufzunehmende Unterhaltung für „Shadowrun“-Fans, die Erzählung eines Rollenspielers für andere Rollenspieler.


Shadowrun: Karmesin
Rollenspiel-Roman
Kevin R. Czarnecki
Pegasus Press 2017
ISBN: 978-3-95789-107-5
279 S., Taschenbuch, deutsch
Preis: EUR 12,95

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