Die Davenport-Chronik

Das Rollenspiel „Cthulhu“ wird in Deutschland von Pegasus nicht nur vertrieben, sondern auch auf großen Veranstaltungen wie Messen oder Conventions in Form von Spielrunden präsentiert. Die dort angebotenen Support-Abenteuer haben zwei Kernanforderungen: Sie müssen in einem recht engen Zeitfenster (zwei bis drei Stunden) spielbar sein und einen guten Eindruck von den Möglichkeiten des Rollenspiels vermitteln. „Die Davenport-Chronik“ enthält vier solche Abenteuer vor dem Hintergrund der klassischen „Cthulhu“-Epoche, der 1920er. Gelingt es diesen ihnen, die Faszination des „Cthulhu“-Rollenspiels zu vermitteln?

von Oliver Adam

Um den überschaubaren, aber dennoch nicht zu leugnenden Zeitbedarf der Charaktererstellung einzusparen, werden Support-Abenteuer zumeist so konzipiert, dass bereits vorgefertigte Investigatoren zum Einsatz kommen. Bei „Die Davenport-Chronik“ erweitert Pegasus dieses Konzept um ein weiteres Element: eine gemeinsame Gruppe vorgefertigter Investigatoren, mit denen alle Abenteuer durchgespielt werden können, und auf die alle Abenteuer zugeschnitten sind. In diesem Sinne beschäftigt sich das erste Kapitel „Die Entstehung der Familie Davenport“ um die Erschaffung und die Hintergründe der vorgefertigten Investigatoren. Als Prämisse wurde dabei ein eingängiges Konzept gewählt: die Familie. Das heißt, alle Investigatoren sind Familienmitglieder der Davenports oder zumindest mit der Familie verbunden. Da gibt es das aufstrebende Familienoberhaupt, dessen Ehefrau mit Schauspiel-Ambitionen, den abenteuerlustigen Künstlersohn und dessen Flapper-Freundin oder den Chauffeur mit Tendenzen „fürs Grobe“. Das Kapitel stellt diese Investigatoren vor und erläutert detailliert deren Weg bei der Charaktererschaffung in zwei Ausführungen: als klassischer Investigator in den 1920ern und als Pulp-Investigator. Gerade neuen Spielleitern und Spielern verdeutlicht dieser Abschnitt sehr plastisch, wie die Charaktergenerierung bei „Cthulhu“ funktionieren kann.

Die Familie Davenport erlebt in „Echos“ von Julia Knobloch schließlich ihr erstes cthuloides Abenteuer, als sie durch eine rätselhafte Schreibmaschine mit mysteriösem Eigenleben in eine Reihe von Mordfällen verwickelt wird. Die Recherchen im Umfeld der Opfer und zur Herkunft der Schreibmaschine bringen sie schließlich auf die Fährte eines bösartigen Zauberers, der in seinem Rachefeldzug den Zauber „Bewusstseinstransfer“ anwendet. Optionale Szenen und verschiedene Lösungsansätze erlauben es, das Abenteuer entsprechend variabel auf die Zeitoptionen und Spielerfähigkeiten anzupassen. „Echos“ fokussiert sehr schön die investigative und interaktive Komponente von „Cthulhu“, da viele Personen zu befragen und viele Hintergründe zu erforschen sind. Und ganz am Ende wartet das Abenteuer mit einem tollen Twist auf, der zweifellos für die eine oder andere Gruppe sehr überraschend kommt.

Bei „Laboratorium der grausamen Gnome“ von René Feldvoss verschlägt es die Familie Davenport an das Filmset im Filmstudio Babelsberg, an dem gerade ein neuer Film mit Horrorelementen gedreht wird. Dort können die Investigatoren in die Welt der bewegten Bilder eintauchen und sich mit den besonderen Charakteren der Filmwelt und deren Klüngel austauschen. Ebenso können sie die fast lebensechten Marionetten begutachten, die die namensgebenden Gnome darstellen … bis plötzlich ein Mord geschieht: Die Hauptdarstellerin ist auf bestialische Weise ermordet worden! Zu Beginn steht jeder im Verdacht, da fast jede Person der Crew ein Motiv oder zumindest eine Antipathie gegen die ermordete Diva aufweist. Die Untersuchung der Leiche und die Ermittlungen im Umfeld der Filmcrew bringen die Investigatoren schließlich auf die Spur der grausamen Gnome, die durch einen extraterrestrischen Gegenstand zum Leben erweckt wurden und Teil eines großen Zauberrituals sind. Die Investigatoren müssen schnell den verrückten Antagonisten in der Filmcrew unschädlich machen und das Ritual unterbinden. Auch in diesem sehr guten Abenteuer steht Detektivarbeit und soziale Interaktion im Mittelpunkt, angereichert durch das abstruse Element der belebten Puppen.

Schauplatz des Szenarios „Requiem“ von André Frenzer ist ein nobles Privatsanatorium in den USA, in dem die Investigatoren als Patienten eingeliefert wurden, da sie im Vorfeld ein traumatisches Erlebnis hinter sich gebracht haben. Die Investigatoren beginnen das Abenteuer daher mit verschiedenen Geisteskrankheiten, die in den modularen Szenen auch getriggert werden. Wie man sich vorstellen kann, ist das „St. Peter Hospital“ kein beschaulicher Ort, an dem man in Ruhe und Gelassenheit seine mentale Schwäche auskurieren kann. Stattdessen hat sich der Anstaltsleiter in seinem Streben nach alternativen Heilmethoden mit Mächten eingelassen, die besser unberührt geblieben wären, was verheerende Folgen hat. Eines morgens hat sich die Umgebung radikal verändert und das Sanatorium gleicht einem Schlachthaus, das in der Leere des Raums schwebt und vom irren Flötenspiel der Diener Azathoths durchdrungen wird. In einem rasanten Survival-Abenteuer müssen die Investigatoren herausfinden, was hier gespielt wird und dabei ihre Phobien überwinden, um schließlich das Chaos zu beenden. Auch wenn das Abenteuer durch einige blutige Ekelmomente glänzt, ist die Auflösung erfrischend unblutig und kreativ. Wenn die Spieler auf die Lösung kommen, sollte der Spielleiter darauf achten, den Erfolg nicht nur von einer Fertigkeitsprobe abhängig zu machen.

Das Finale des Abenteuerbandes bildet das Pulp-Abenteuer „Helter Skelter“ von Peer Kröger und Heiko Gill. Eine schurkische Pulp-Organisation betreibt eine geheime und abgeschottete Forschungsanlage und erforscht dort eine neue Kampfdroge – den Helter-Skelter-Virus. Bei der Erforschung ist ein Mythoswesen von zentraler Bedeutung, das nun in den Tiefen der Anlage gefangen gehalten wird. Ein Mitarbeiter der Organisation erkennt in dem gefangenen Schoggotten einen Gott, den er unter allen Umständen befreien möchte, und setzt das Virus in der gesamten Anlage frei. Die Investigatoren erwachen in einem Versuchslabor und werden in ein feindliches, abgeriegeltes Umfeld geworfen. Bedrängt von Infizierten, die darauf aus sind, sie zu töten und zu verzehren – oder sich zumindest mit ihnen zu paaren –, kämpfen sich die Investigatoren durch den Forschungskomplex und kommen so Stück für Stück dem Geheimnis des Helter-Skelter-Virus auf die Schliche und dem Showdown gegen das Mythoswesen näher. „Helter Skelter“ erinnert durch sein Setting und die permanente Action an Computerspiele wie Doom oder Half-Life. Im Verlauf der Handlung kommen die Investigatoren sogar an einen Gegenstand mit dem Titel BFG, das sich dann aber als Binnenfunkgerät herausstellt. Ein gelungenes Abenteuer, das sich durch ständigen Druck und permanente Action bei Selbstbehauptung in einem feindlichen und abgeriegelten Umfeld auszeichnet.

Fazit: „Die Davenport-Chronik“ fokussiert in vier Support-Abenteuern gekonnt ganz unterschiedliche Aspekte des „Cthulhu“-Rollenspiels. Während „Echos“ und „Laboratorium der grausamen Gnome“ primär die investigative und interaktive Komponente in den Mittelpunkt stellt, vermittelt „Requiem“ gnadenlose Survival-Action mit cthuloiden-Phobien. „Helter Skelter“ zeigt schließlich, dass „Cthulhu“ auch mit ganz abgefahrenen Szenarien glänzen kann. Hervorzuheben ist der modulare Aufbau der Abenteuer mit verschiedenen optionalen Szenen, die es dem Spielleiter erlauben, diese entsprechend variabel auf die Zeitoptionen und Spielerfähigkeiten anzupassen. Vorgefertigte Investigatoren erlauben zwar einen schnellen Start, der Ansatz, diese hintereinanderweg durch alle Szenarien zu spielen, kommt jedoch schnell an eine „Glaubwürdigkeitsgrenze“, die auch mit einer kurzen Erklärung im abschließenden Abenteuer für mich nicht restlos aufgeklärt wird. Insgesamt ein absolut empfehlenswerter Band mit tollen Abenteuern, die nicht nur bei Support-Runden wohliges Grauen an den Spieltisch bringen werden.

Die Davenport Chronik

Abenteuerband
Julia Knobloch,  René Feldvoss, André Frenzer, Heiko Gill, Peer Kröger
Pegasus Press 2019
EAN: 9783957892393
88 S., Softcover, deutsch
Preis: 9,95 Euro

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