Schattenläufer

Was macht ein Individuum aus? Wie unterscheidet sich ein Straßensamurai vom anderen? Ist es die etwas andere Waffe, die andere Bodyware – oder doch die Art, wie derjenige aufwuchs, wie er die Welt sieht und wie er von dieser wahrgenommen wird? Die Konzerne wünschen sich Gleichförmigkeit, berechenbar und sicher, für ihre Kunden und ihre Mitarbeiter. Doch das Leben sucht nach Vielfalt. Und wenn es diese nicht im Licht der Konzerne gibt, dann entwickelt sie sich in den Schatten.

von Adaon

Wie allgemein bekannt, ist „Shadowrun“ ein komplexes System, sowohl von den Regeln als auch vom Setting her. Die neue Erweiterung „Schattenläufer“ wird da sowohl helfen als auch erweitern. Sehen wir uns einmal an, was wir bekommen:

Der erste Abschnitt „Wer Ihr seid und Warum“ beschreibt das Leben in der sechsten Welt als Shadowrunner und die Frage, wie man zu einem Schattenläufer wird. Interessant geht es im zweiten Kapitel „Ethik und andere Scherze“ mit gut beschriebenen Verhaltensregeln und -kodizes weiter, die sich so mancher selbst auferlegt; sei es, um „besser“ zu sein, sei es, um die eigene Menschlichkeit nicht zu verlieren – oder sei es, um zu einer Gruppe zu gehören. „Die Würze des Runnerlebens“ beschreibt Jobs, Gegenden und Auftraggeber mit denen es Runner zu tun bekommen könnten.

„Unter der Oberfläche“ beschreibt die Ausprägungen der metamenschlichen Rassen (und der Body-Tech-abhängigen Transhumanisten) in ihrem Versuch, eine eigene Kultur und damit Identität zu finden; doch da es auch unter den erwachten Rassen Unterschiede gibt, betrachtet das folgende „Metamenschliche Unordnung“ die weiteren Abweichungen von der „Norm“, die Metavarianten der Metavarianten sozusagen. Beispielsweise können aus Orks Hobgoblins, Oger, Oni und Satyrn werden. Und das ist noch nicht alles: Weitere vernunftbegabte Wesen wie Nagas, Sasquatche, Gestaltwandler und Zentauren werden vorgestellt und können sogar gespielt werden.

Auch die durch Magie Transformierten, besonders bekannt durch das SURGE-Phänomen 2061, werden durch zahlreiche vorgestellte Vor- und Nachteile als Spielercharaktere erschaffbar. Wem diese Abwechslung noch nicht reicht, kann im nächsten Kapitel „In die Nacht“ seinen Charakter von Anfang an mit dem MMVV infizieren lassen, um fortan als Vampir, Banshee oder Ghul durch die Schatten zu ziehen – und auch besser dort zu bleiben, denn nach der Verwandlung sind Sonnenbäder definitiv keine gute Idee mehr. Selbst die große Ansammlung an Vor(und Nach-)teilen aus dem nächsten Abschnitt „So gut es geht man selbst“ bietet für sonnenhungrige Untote keine Lösung – dafür aber mehr Möglichkeiten, Karma auszugeben oder bei der Charaktererschaffung hinzuzubekommen.

Um eben diese Charaktererschaffung noch abwechslungsreicher beziehungsweise einfacher zu gestalten, werden im Kapitel „Baukästen“ drei Möglichkeiten der Charaktererschaffung als Ergänzung oder Erweiterung zum Prioritäten-System im Hauptregelwerk vorgestellt. Das darauf aufbauende 10-Punkte-System, das sehr flexible Karmasystem und das Lebensmodul-System, bei dem für Karmakosten der bisherige Werdegang des Charakters Lebensabschnitt für Lebensabschnitt „eingekauft“ wird (mit Herkunft, Schul- und Ausbildung, ausgeübten Berufen und Lebenserfahrung), sorgen für Erleichterung und Abwechslung. Dazu passend gibt es im nächsten Kapitel „Wen man kennt“ eine Betrachtung der sozialen Verbindungen im Leben eines Charakters, ob mit Einzelpersonen oder ganzen Organisationen. Als Bonus gibt es noch eine ganze Horde von fertigen Connections zum Mitnehmen.

„Bosse und Verräter“ betrachtet die Beziehung des Shadowrunners zu Mr. Johnson – und andersherum. „Trautes Heim“ erweitert die Möglichkeit, irgendwo unterzukommen, um einen Haufen Möglichkeiten und weitere optionale Regeln. Und schließlich findet sich in „Packt Eure Sachen“ eine große Anzahl an Einkaufs-Paketen, fertig verschnürt und jeweils 2.000,- Nuyen oder ein Vielfaches davon kostend, damit man auch bei der Charaktererschaffung (Umwandlung von jeweils einem Karma in 2.000,- Nuyen) bequem einkaufen kann. Abgerundet wird dieses Kapitel von Preislisten für verschiedene alltägliche Dienstleistungen oder Waren, die ein Charakter mal brauchen könnte.

„Schattenläufer“ kommt mit seinen 12 wohl gefüllten Kapiteln, gebunden und vollfarbig auf 269 Seiten und für knapp 20,- € wieder sehr günstig daher. Etwas unübersichtlich wirkt die Sache dabei schon; selbst die Tabellen-Sammlung auf den letzten sieben Seiten, die auch auf andere „Shadowrun 5“-Veröffentlichungen zurückgreift, hilft einem eigentlich nur, wenn man bereits allgemein weiß was beziehungsweise wonach man sucht. Ein weiterer kleiner Kritikpunkt sind die falsche Hautfarbe des Oni im Abschnitt über Ork-Varianten (auch bei den Troll-Varianten wirkt manches nicht ganz zum Text passend) oder die teilweise nicht richtig ausgefüllten Werte den angebotenen fertigen Archetypen, der doppelte Eintrag in der Tabelle für Vorteile etc. Wie auch bei den anderen „Shadowrun“-Produkten sind dies überschaubare Fehler, die einem das Leben nicht wirklich schwer machen und praktisch nur aufgrund des sonst hochwertigen Produktes ins Auge fallen.

Um das angebotene Material wirklich nutzen zu können, muss man schon das ganze Buch studieren. Danach aber kann man auch anderen bei der Charaktererschaffung nützliche Tipps geben beziehungsweise die Erschaffung wesentlich genauerer Charaktere anbieten; von völlig neuen Möglichkeiten wie den Transformierten mal ganz abgesehen. (Ich muss dringend noch einen Charakter mit Schnellheilung und einziehbaren Klauen entwickeln.) Hochinteressant sind die Möglichkeiten, einmal etwas „völlig anderes“ zu spielen und dabei diese Abweichungen von der Norm und die Auswirkungen auf die Umgebung und den Charakter auszuspielen. (Wie reagiert eine Konzernsekretärin, selbst 60 Jahre nach dem Erwachen, auf einen Menschen mit goldener Haut und vier Armen? Und wie reagiert ein elfischer Grenzposten bei der Einreise nach Tir Na Nog?)

Wenn man vorhat, eine Weile „Shadowrun“ zu spielen, oder eine Gruppe hat, die öfters – gezwungenermaßen oder nicht – die Charaktere wechselt, kommt man mit diesem Buch deutlich weiter. Auch wer gerade erst mit der 5. Edition anfängt, sollte neben dem Grundregelwerk und dem Spielleiterschirm einen Blick auf dieses Buch werfen – wenn man denn eine Gruppe hat, die durch noch deutlich mehr Möglichkeiten und Hinweise bei der Charaktererschaffung nicht verunsichert wird.

Doch auch als Spielleiter wird man mit diesem Buch einen Schwung an nützlichen Informationen bekommen. Allein der Abschnitt über Mr. Johnson ist hochinteressant. Die Vielfalt der Metamenschheit und die Option, andere Sapiente Wesen einzubringen, erlaubt es, die wirklich erwachte Welt auch abseits vom Magier und Beschwörer darzustellen – und neue Konflikte einzubringen. Hilfreiche Tabellen zum raschen Auswürfeln von Connections und eine ganze Liste fertiger NSC erleichtern das Improvisieren von Szenen. Infizierte werden ausführlich dargestellt und können so leichter eingebaut werden. Und das sind nur ein paar Beispiele. Wird dieses Buch dem Spielleiter dabei helfen, ein packendes Action-Abenteuer zu erzählen? Nicht wirklich. Aber es wird ihm helfen, die Welt von „Shadowrun“ vielfältiger, abwechslungsreicher und in sich glaubwürdiger darzustellen. Je nachdem, in welche Richtung sich ein Spielleiter bewegen will, kann das doch sehr hilfreich sein.

Fazit: Ein Buch für Vielspieler von „Shadowrun“. Ernsthaft: Wer zahlreiche Charaktere erschaffen möchte, wer Abwechslung beim Straßensamurai, Magier und Decker sucht, wer leichte Wege zur Charaktererschaffung mag – beispielsweise für Demorunden – oder auf die Schnelle noch ein paar sinnvolle Einkäufe für seinen Charakter tätigen will, wer einen Blick auf die Gefahren der Infizierten werfen will, auf Metavarianten, oder sogar Metasapiente, sei es als Charakter oder NSC, wer einen Kodex sucht, nach dem sein Charakter leben kann, oder menschliche Abgründen in den Schatten – hier wird er fündig. Und wieder mal haben wir hier ein gutes Geschenk an den Spielleiter, damit die Gruppe dann darin stöbern kann. ;-)


Schattenläufer
Quellenbuch
Raymond Croteau, Kevin Czarnecki, Oliver Gagnon, u.a.
Pegasus Spiele 2015
ISBN: 978-3-95789-005-4
269 St., Hardcover, Deutsch
Preis: EUR 19,95

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