Datenpfade

Das Internet ist als Konzept schon eine ganze Weile bekannt; in der Umsetzung gibt es eine ganze Generation, die es gar nicht anders kennt: Alle Informationen sind gefühlt nur ein paar Klicks entfernt, für jeden nutzbar, für fast jeden mitgestaltbar. Grenzen gibt es scheinbar nicht, alles ist vernetzt. Als die erste Edition von “Shadowrun” erschien, war dies allerdings noch Zukunftsmusik, wie es sich für ein Science-Fiction-Setting gehört; und die Matrix, mit all ihren digitalen Wundern, erschien in diesem Umfeld ebenso fantastisch wie die zurückgekehrte Magie.

von Adaon

Die neue Matrix ist da. Das ist jetzt keine so große Überraschung, es gibt sie immerhin schon seit einer Weile. Doch die Abhandlung im Grundregelwerk, die uns diese neue, kabellose, überall präsente, von den Zugangsgeräten mitgetragene, diese gleichzeitig allgemeine und in Gitter eingeteilte (die sowohl Grundlage der Matrix und Einteilung dieser sind als auch sich überlagender Hintergrund) Matrix vorgestellt hat, war zwar spieltechnisch ausreichend, doch nicht eben erschöpfend.

Dies will das neue Regelwerk „Datenpfade“ ändern. Auf 191 Seiten eröffnet uns der Hardcover-Band die Matrix als ein großes, unbekanntes Land. Neben der alltäglichen Nutzung des gewöhnlichen Users durch sein Kommlink, mit seiner Freundesliste und seiner Trideo-Katzenbildersammlung legen sich Decker mit IC an, ändern die Aufzeichnungen von Überwachungskameras und jagen nach Paydata – und haben immer nur wenig Zeit, da die G.rid O.verwatch D.ivision scharf aufpasst. Und in den Tiefen der neuen Matrix, in den Protokollen, die die neuen Hosts abbilden und die Kommunikation der Geräte untereinander, die gemeinsam die Matrix erzeugen, kann ein talentierter Decker weit in die Tiefen der Daten abtauchen, in das „Fundament“ eines Hosts. Und noch weiter gehen die Technomancer, wenn sie die Resonanzräume hinter, unter und zwischen der Matrix aufsuchen, die ohne diese ja gar nicht existieren würden ... oder?

Überraschende Parallelen zur Magie-Darstellung von „Shadowrun“ scheinen aufzutauchen. Wie ein Erwachter Charakter zu den Metaebenen reisen und seine Freunde unter bestimmten Bedingungen mitnehmen kann, kann ein Hacker jetzt „Tiefenhacks“ durchführen, unter das „Fundament“ eines Hosts, abseits von üblichen Matrixprotokollen, IC, Sicherheitsspinnen und selbst der G.O.D. Durch die Rechenleistung, die hier erforderlich ist, wirkt der Ort für die Nutzer real – egal wie fremdartig er angelegt ist; Spielleiter werden ausdrücklich aufgefordert, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen, ob es nun ein Alice-im-Wunderland-Szenario ist oder sich die Nutzer in einem Jump’n’Run aus den 1990ern wieder finden. Auch Nicht-Hacker können hier ihre normalen Fähigkeiten anwenden, die das System in für diese abgeschlossene Welt sinnvolle Ergebnisse umsetzt. Ob diese Möglichkeit, den Decker in die Matrix zu begleiten, notwendig war, sei einmal dahingestellt.

Doch diese Nutzungsmöglichkeiten der neuen Matrix stehen weiter hinten im Buch. Erst einmal wird die Matrix aus verschiedener Sicht vorgestellt, vom begeisterten Teenager, vom Konzernbürger, von der Marketing-Abteilung des Konzerngerichtshofes. Wie sehen die User die Matrix? Ist sie überall angekommen? Und wie ist sie aufgebaut? Danach werden Hacker und ihre Persönlichkeiten genauer unter die Lupe genommen. Es gibt neue Vor- und Nachteile sowie Lebensmodule für die alternative Charaktererschaffung aus dem „Schattenläufer“-Band. Weiter geht es mit Programmen für normale Nutzer und Decker, den Geräten, die man zur Interaktion mit der Matrix braucht, und was man mit ihnen anstellen kann – also Kommlinks und Cyberdecks –, der Matrix-Sicherheit in Form der G.O.D. und den Orten, an dem sich das wahre Leben der Konzerne (und die Datenverarbeitung) in der Matrix abspielt: den Hosts. Von den kleinen für örtliche Verwaltungsaufgaben, den spezialisierten für bestimmte Einrichtungen, wie einer Bohrinsel, bis zu den weltweit erreichbaren Giganten der Großen Zehn am künstlichen Himmel der Matrix.

Danach ist es Zeit für das Kapitel „Neuland“ mit den oben erwähnten „Tiefenhacks“. Als nächstes geht es um die immer noch spürbaren Auswirkungen des Crash 2.0, um KIs, E-geister, Technomancer und die Resonanz – und um die Möglichkeit, ein Wesen der Matrix als Charakter zu spielen: eine KI oder einen E-geist. Die Welt komplett hinter sich lassen, in den Datenströmen zu leben, statt diese nur zu fühlen und zu manipulieren, klingt nach einer interessanten Möglichkeit, die recht mächtig sein könnte. Doch dank des „Orts-Prinzips“ der neuen Matrix mit ihrem Rauschen auf größere Entfernung, muss auch ein solches Wesen in der Matrix am selben „Ort“ sein wie das Team, mit dem es arbeitet. Können (und sollten) die Bedürfnisse und Wünsche eines solchen Wesens deutlich von denen eines Metamenschen abweichen, oder versucht der Charakter, obwohl er nur aus Code besteht, ein möglichst „normales“ Leben zu führen?

Den Abschluss bieten Hinweise, Konzepte, beschriebene Darstellungen von allem Möglichem und Wichtigem, was einem in der Matrix begegnen kann, Hilfe beim Design des Matrix-Abschnittes eines Runs und Beispiele, um Spielleiter bei der Beschreibung des virtuellen Teils der 6. Welt zu unterstützen.

Wie immer gibt es Licht und Schatten. Das Regelwerk ist stabil, schön gebunden, zahlreiche Illustrationen und Kurzgeschichten lassen die 6. Welt lebendig werden. Vereinzelte Schreibfehler fallen dadurch umso mehr auf, trüben jedoch nicht den positiven Gesamteindruck. Und bei diesem günstigen Preis kann man sich auch definitiv nicht beschweren. Einzig der Abschnitt über „Tiefenhacks“ wirkt ein wenig merkwürdig: Wieso ist die Steuerung und grundsätzliche Zugriffskontrolle eines Hosts wie eine beliebig ausgewählte, erdachte Alternativ-Realität aufgebaut? Wieso kann man jemanden, der auf seinem Kommlink nicht mal GridGuide findet, hierhin mitnehmen, damit er seine kämpferischen Fähigkeiten unter Beweis stellen kann? Die Antwort dürfte die Möglichkeit für Spielleiter sein, etwas Spaß zu haben, und für die Gruppe nicht abwarten zu müssen, wie der Hacker sich hier einen Spieleabend lang allein zurecht findet, während die anderen am Tisch Würfeltürme bauen. Doch auch wenn man diesen Abschnitt nicht nutzen möchte, nimmt er nur einen kurzen Teil des beeindruckend umfangreichen Regelbuches ein. Daher stört er nicht den positiven Gesamteindruck – wenn man diese Möglichkeit nicht sogar begeistert begrüßt.

Fazit: „Shadowrun“ stellt einem immer wieder die Frage, wie man es spielen will. Stehen die Technik im Vordergrund, die Menschlichkeit oder ihre Abgründe? Die Magie, die Macht der Konzerne oder das Elend der SIN-losen? Um die Tiefe dieses Systems auszuloten, um in jede Richtung gehen zu können, braucht es Unmengen an Hintergrundmaterial für Spieler und Spielleiter. Im Laufe der Jahrzehnte ist sehr vieles veröffentlicht worden. Und wohl kaum ein Bereich hat sich so sehr im Laufe der Zeit verändert wie die Technik allgemein, und die Matrix im Besonderen. „Datenpfade“ gibt uns die neuesten Informationen über einen Spielbereich, in dem sich im Spiel alles ständig ändern kann; von Menschen erschaffen, von Menschen genutzt, von Menschen veränderbar ist die Matrix entweder ein Hintergrundrauschen der Umwelt der Charaktere oder lebendiger, fühlbarer Teil ihrer Existenz – oder alles dazwischen. Es liegt an der Gruppe. Das Werkzeug für den Spielleiter liegt vor.


Datenpfade
Quellenbuch
Jason Andrew, Raymond Croteau, Olivier Gagnon u.a.
Pegasus Spiele 2015
ISBN: 978-3-95789-000-9
191 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 19,95

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