Neon Genesis Evangelion – Perfect Edition 1

Habt ihr auch so ein bestimmtes Buch, das ihr seit jeher lesen wolltet, aber aus welchen Gründen auch immer nicht dazu gekommen seid? Was für Bücher gilt, gilt für Comics und Mangas gleichermaßen! Und der Titel „Neon Genesis Evangelion“ ist bei mir ein solch ausgelassenes Werk. In diesem Jahr aber wird es keine Ausreden geben, denn Carlsen Manga bringt die komplette Reihe als „Perfect Edition“ heraus. Wer ist dabei?

von Daniel Pabst

Bislang bin ich über die erste Folge des Animes „Neon Genesis Evangelion“ aus dem Jahre 1995 nicht hinausgelangt. Dabei ist der Anime und die 1994 erschienene Manga-Reihe von Yoshiyuki Sadamoto als die Vorlage schlechthin für viele (aktuelle) Animes zu betrachten. Sich bekämpfende Roboter und Aliens, gepaart mit (pseudo-)religiösen und philosophischen Fragen à la Sigmund Freud (1856-1939) oder Arthur Schopenhauer (1788-1860), oder sogenannte „Waifu-Wars“ oder „Love Triangles“ mit kontrastreichen Charakteren sind hier zu sehen. Bekannte Motive, die heute wie aus Schubladen für Animes gezogen werden, fanden ihren Prototypen in „Neon Genesis Evangelion“. Das allein macht diesen Manga interessant – aber ist er dadurch auch lesenswert?
 
„Neon Genesis Evangelion“ (häufig auch schlicht als „Evangelion“ bezeichnet) wird in diesem Jahr in einer Neuauflage („Perfect Edition“) von Carlsen Manga in insgesamt sieben Doppelbänden veröffentlicht. Der erste großformatige Band umfasst 336 Seiten und hat einen Klappumschlag. Auf den Covern werden jeweils die wichtigsten Charaktere abgedruckt; der erste Band porträtiert passenderweise den Protagonisten dieses Bandes: Shinji Ikari. Der Manga liegt gut in den Händen und wird durch einige bunte Seiten aufgewertet. Das hilft allen, die die Figuren zum ersten Mal sehen, sich ein besseres Bild von ihnen zu machen. Auch wenn es vielleicht nur ein Randdetail ist, so fällt beim Lesen die gewählte Papierdicke positiv auf. Man merkt, dass Carlsen Manga sich dem ikonischen Werk nicht übereilt gewidmet hat.

Was aber erwartet die Leserinnen und Leser bei „Neon Genesis Evangelion“ jetzt genau? Zu Beginn lesen wir, dass sich die Weltbevölkerung durch den Anstieg des Meeresspiegels, Naturkatastrophen, den Zusammenbruch der Ökonomien, Unruhen und Bürgerkriege um die Hälfte reduzierte. Als wäre das nicht genug, wird der Wiederaufbau 15 Jahre später vehement gestört. Grund dafür sind die „Engel“. Entgegen ihres heilbringenden Namens greifen sie die Menschheit an. Um diese aufzuhalten, gibt es nur eine (letzte) Hoffnung. Es sind die „Evangelions“ – besser bekannt als „EVAs“. Diese werden von Mädchen und Jungen gesteuert. Der Fortbestand der Menschheit liegt damit in den Händen von Kindern, könnte man meinen. Doch ist dem auch tatsächlich so?

Shinji Ikari ist 14 Jahre alt und mitten in der Pubertät. Da tut es seiner Psyche nicht sonderlich gut, als er von einer geheimen Organisation plötzlich in einen „EVA“ gesetzt wird, um eine Aufgabe zu erfüllen, die weit über dem Alltäglichen liegt. Von einem auf den anderen Tag betreffen seine Handlungen die gesamte Menschheit! Wie damit umgehen? Welchen Einfluss haben Erinnerungen und eine in Scherben liegende Familiensituation? Wie kompensiert man das Fehlen seiner Mutter? Wie lebt man mit einem despotischen Vater? Wie schafft man es, einem Mädchen seine Gefühle zu zeigen? Welche Einflüsse haben Extremsituationen auf die Entwicklung eines Jugendlichen? Kann man mit der gestellten Aufgabe über sich hinauswachsen?

Bereits im ersten Band von „Neon Genesis Evangelion“ lässt uns Yoshiyuki Sadamoto die Schwächen und zugleich Bedürfnisse der menschlichen Spezies spüren. Im Kontrast dazu zeigen die „Engel“ keine Gefühle und scheinen nur ein Ziel zu kennen: die Auslöschung der Erde. Trotz dieser düsteren Endzeit-Ausgangslage bietet dieser Manga auch „Fanservice“ – besonders für die männlichen Leser, die mit den Augen des unerfahrenen Protagonisten (versehentlich) einer Frau beim Duschen zusehen. Auch dies ist ein Punkt, warum „Neon Genesis Evangelion“ so einen großen Einfluss auf die folgenden Animes und Mangas hatte. Mit ausgewählten Zeichnungen und Handlungen konnte der Verkauf von Merchandise in die Höhe schießen. Durch diese Reihe wurde das Anime- und Manga-Fandom also erst so richtig Richtung Übersee erweitert.

Noch heute bietet „Neon Genesis Evangelion“ Spielraum zur Interpretation. Durch die ambivalenten Charaktere und bewusst verwendete Symbolik ist der Klassiker damit mehr als das, was wir auf den ersten Blick sehen oder lesen. Wer auf das Erscheinen des zweiten Bandes in dieser „Perfect Edition“ von Carlsen Manga nicht warten kann (31.01.2023), der kann den Anime auf Netflix ansehen. Hinzu kommen allerhand Kinofilme, die die Welt von „Evangelion“ munter erweitern. Ich für meinen Teil werde zuerst den Manga lesen. Gerade die Bizarrheit der Geschichte und die Unvorhersehbarkeit für die Handlungsträgerinnen und Handlungsträger, welche einer Reihe von absurden Aliens gegenüberstehen, überträgt sich beim Lesen Seite für Seite. Dafür benötigt es keine schnellen bunten Bilder. Wie schön, dass sich das (unbeabsichtigte) Warten auf diese Weise ausgezahlt hat.

Leseprobe

Fazit: Wer den ersten Band von „Neon Genesis Evangelion“ in der Neuauflage gelesen hat, der merkt, wo andere Mangaka ihre Inspiration fanden. Wir erleben keinen „Musterhelden“, der sich jeder Gefahr stellt, sondern einen aus Angst und Egoismus handelnden, triebgesteuerten und innerlich gebrochenen Jungen. Unklare Situationen, neue Herausforderungen und skrupellose Gegner können für die Menschheit und damit für alle Charaktere tödlich enden. Darüber möchte man mehr wissen. Für mich ist dieser Band ein perfekter Hybrid aus großer Action, psychologischen Herausforderungen und Teenie-/Familien-Drama in einer Coming-of-Age Story.

Neon Genesis Evangelion – Perfect Edition 1

Manga
Yoshiyuki Sadamoto
Carlsen Manga 2023
ISBN: 978-3-551-77545-0
336 S., Taschenbuch, deutsch
Preis: EUR 18,00

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