Nautischer Nachtmahr (II)

Unermessliche Tiefen, dunkle Stellen im Ozean, versunkene Zivilisationen am Meeresgrund. Nautische Motive sind eng verzahnt mit dem Cthulhu-Mythos und Bestandteil zahlreicher Geschichten und Abenteuer. Die Anthologie „Nautischer Nachtmahr“ greift die Thematik in drei vorgefertigten Abenteuern auf und versucht dabei zu neuen Ufern aufzubrechen. Gelingt es der Sammlung, das Boot zu rocken?

von Oliver Adam

„Nautischer Nachtmahr“ liegt wie die Vorgängerbände der Reihe als Softcoverpublikation mit einem Umfang von knapp 100 Seiten vor. Dabei sind Aufmachung und Gestaltung des Bandes sehr ansprechend und reihen sich in das hohe Niveau der „Cthulhu“-Publikationen ein, wobei die Qualität der Illustrationen über die verschiedenen Abenteuer schwankt. Auch das schaurige Cover von Mark Freier ist sehr stimmig und greift das nautische-schreckliche Thema sehr schön auf.

Den Auftakt macht „Menschenfracht“ von Dominic Hladek, bei dem sich die Investigatoren eingesperrt in einem Container-Schiff auf dem Weg von China in die USA befinden. Die acht vorgefertigten und sehr gut ausgearbeiteten Investigatoren haben dabei verschiedene und gleichzeitig auch miteinander verknüpfte Antriebe für diese Reise, sodass eine Motivation für ein ausgiebiges Rollenspiel bereits mit dem Setup der Boden bereitet wird. Da gibt es beispielsweise einen Regimeflüchtling, einen verzweifelten Auswanderer, einen tibetanischen Mönch und auch einen US-Amerikaner, die Hals über Kopf aus China flüchten müssen. Im Kern handelt es sich um ein One-Shot Survival-Abenteuer, das sehr hart mit den Investigatoren ins Gericht geht und in seinem Verlauf sehr offen gestaltet ist. Während die Investigatoren in ihrem Container ausharrten, ist die gesamte Besatzung zum Opfer eines Schreckens aus der Tiefe geworden, dessen außerweltliche Kreaturen (für Kenner der cthuloiden Mythologie: Yuggs) nun das Schiff an sich gerissen haben. Nach der Flucht aus dem Container erkunden die Investigatoren das Schiff und treffen dort unter anderem Menschen, die sich im Verwandlungsprozess zum cthuloiden Schrecken befinden, sowie einen wahnsinnigen Überlebenden, der in die Sache involviert ist. In einem albtraumhaften Finale versuchen sie den Motor zu starten und Treffen dort auf eine Verkörperung Ythogthas. Ein gutes Survival-Abenteuer mit vielen Möglichkeiten für Action, bei dem die Überlebenschancen sehr gering sind. Negativ anzumerken sind hier die eher einfachen und mäßigen Illustrationen.

Das zweite Abenteuer „Eisgefängnis“ von Jos Kayser spielt an Bord des sowjetischen Atom-U-Bootes Akula – einem geheimen Forschungsprojekt der sowjetischen Armee im Jahre 1981, also inmitten des Kalten Krieges. Die Spieler übernehmen dabei die Rollen der vorgefertigten Besatzungsmitglieder, vom kommunismustreuen Kapitän über den zweifelnden Chefmechaniker bis hin zum Navigationsoffizier mit dem Traum, die Welt zu bereisen. Die Investigatoren sind gut ausgearbeitet, besitzen jedoch weniger Interaktionsfläche als in „Menschenfracht“. Auf einer streng geheimen Mission geraten sie in eine Havarie und stranden mit dem schwer beschädigten U-Boot auf einer arktischen Insel, die es an dieser Stelle nicht geben dürfte und einige unerwartete und unnatürliche Überraschungen bereithält. Im arktischen Eis haben sie die Möglichkeit, ein eingefrorenes Segelschiff sowie ein versunkenes Flugzeug zu erkunden und weitere Hinweise zu finden, die sie schließlich in das Innere der Insel führen, wo sie das Geheimnis der schwarzen Insel entschlüsseln können. „Eisgefängnis“ zeichnet sich durch viele starke Szenen aus, bei denen es viel zu erkunden, zu entdecken und zu entscheiden gibt. Und das Geheimnis der Insel finde ich einfach nur grandios. Darüber hinaus wartet das Abenteuer mit den besten Illustrationen des Bandes auf. Der Spielleiter sollte sich dabei vorab etwas in die Spezifika zu Technik, Steuerung und Umgangsweise eines U-Bootes einarbeiten, damit das Setting wirklich glaubhaft rüberkommt. Für mich ein rundum gelungenes, hervorragendes Abenteuer – „Jawoll, Herr Kaleun!“

„Tangaroa“ von Michael L. Jaegers bildet den Abschluss des Bandes und versetzt die Investigatoren auf eine dauerhaft besetzte Tiefseeforschungsstation, die sich in einer Tiefe von knapp 5.000 Metern auf dem Meeresboden befindet. Eine Notfallmeldung der Station löst einen Rettungsmission aus, die von den Investigatoren durchgeführt wird. Auch hier stehen sehr gute vorgefertigte Investigatoren zur Verfügung, deren Hintergrund und individuellen Geheimnisse mit dem Plot um die Forschungsstation verknüpft sind. An Bord der Station entwickelt sich ein Unter-Wasser-Survival-Abenteuer, bei dem die Investigatoren unter Zeitdruck ihre Entscheidungen fällen müssen – da das Abenteuer (zumindest in der Form, wie es der Autor plant) in Echtzeit abläuft. So können sie die sozialen Bruchstellen der aktuellen Forschungsmannschaft aufdecken und schließlich einen Wahnsinnigen konfrontieren. Während das Setting ein frischer und neuartiger Ansatz ist und die Verkettung der Hintergründe mit den Geheimnissen der vorgefertigten Investigatoren hervorragend funktioniert, bleibt für mich die Tiefenwirkung des Antagonisten eher oberflächlich. Seine Motivation und der Grund für seine Verwandlung wird nur flüchtig erklärt – und ist dabei kaum cthuloid. Davon abgesehen bietet „Tangaroa“ ein gutes Survival-Abenteuer in einem denkwürdigen Setting.

Fazit: Der Abenteuerband „Nautischer Nachtmahr“ überzeugt durch ausgefallene Ausgangssituationen, die weit entfernt sind von typischen „Cthulhu“-Schauplätzen. So finden sich die Investigatoren als Flüchtlinge auf einem Containerschiff („Menschenfracht“), als Besatzung eines experimentellen sowjetischen U-Boots („Eisgefängnis“) oder in einer Tiefseeforschungsstation („Tangaroa“) wieder. Jedes Abenteuer wird durch vorgefertigte Investigatoren angereichert, die gekonnt mit dem Setting verknüpft sind. Durch die klare Fokussierung auf One-Shot-Ansätze ist eine Übertragung auf bestehende Gruppenkonstellationen schwierig und arbeitsintensiv für den Spielleiter. Insgesamt erreichen die Abenteuer ein hohes Niveau, wobei „Tangaroa“ gerne stärkere cthuloide Bezüge haben dürfte und „Eisgefängnis“ als Highlight hervorsticht.

Nautischer Nachtmahr
Abenteuerband
Dominik Hladek, Jos Kayser, Michael L. Jaegers
Pegasus 2019
ISBN: 978-3957893031
96 S., Softcover, deutsch
Preis: EUR 9,95

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