Marvel X-Men – Aufstand der Mutanten

Die Welt ist ein gefährlicher Ort. Zum Glück gibt es Superhelden-Teams wie die X-Men, Mutanten aus dem Umfeld der Schule von Professor Xavier, die für Sicherheit sorgen. Zumindest in der Theorie. Tatsächlich sind dort, wo Superhelden unterwegs sind, die Superschurken oft nicht fern. Und so kommt es immer wieder zum Aufstand der Mutanten, sehr zum Leidwesen vieler Menschen. Können die X-Men alle Krisen meistern und beweisen, dass ein Frieden zwischen Menschen und Mutanten möglich ist?

von Bernd Perplies

Satte Action wird versprochen, wenn man allein die Box von „Marvel X-Men – Aufstand der Mutanten“ aus dem Hause Fantasy Flight Games anschaut. Wolverine – im klassisch gelben Spandex –, Cyclops, Storm, Beast und mehr Mutanten jagen dem neugierigen Spieler in einem sehr coolen Motiv von Comic-Cover-Multitalent InHyuk Lee entgegen, bereit, die Welt zu retten. Und genau das wird ihr Job in den 8 Szenarien (Plots) sein, die man in diesem kooperativen Würfelspiel für 1 bis 6 Personen erleben kann.

Das Spielmaterial ist bunt, versprüht Comic-Flair und weiß von der Qualität her zu überzeugen. Superkraftkarten, Plotkarten, Storykarten und Schurkenkarten weisen hübsche Illustrationen im Comic-Stil auf, für die eine ganze Armee an Illustratoren verantwortlich zeichnet. Die Spielfiguren bestehen aus stabiler Pappe mit Plastikfüßen – fast ungewohnt in Zeiten überbordender Plastikminiaturenspiele, aber natürlich viel preisgünstiger und hier absolut ausreichend – und sogar an einen schicken Papp-Blackbird (als Mutanten-Basis) wurde gedacht. Dazu kommen noch – neben ein paar weiteren Karten und Spielmarkern – 12 Spezialwürfel in drei unterschiedlichen Farben, die letztlich das Herz des Spielmechanismus darstellen.



Zwei Kritikpunkte sind anzubringen: Zum einen gibt es nicht genug Plastikfüße für die Mutantenfiguren. Dadurch muss man häufig umstecken, was vor allem Pedanten stört, die in Sorge um die Unversehrtheit ihrer Pappmarker sind. (Wobei die Füße nicht so fest stecken, dass sie wirklich Schaden anrichten; wir haben es getestet.) Etwas störender nach dem Ausstanzen aller Marker ist der Umstand, dass gut die Hälfe der Spielbox einfach leer bleibt. Selbst mit einer Anleitung im DIN-A4-Format hätte man ein Drittel Platz einsparen können. Das wiederum hätte natürlich für eine Box im kuriosen Format gesorgt, die vielleicht in der Produktion teurer gewesen wäre und im Regal letztlich doch kaum Platz gespart hätte, weil es für sie keinen richtigen Platz zwischen all den Standardboxen (30x30 cm) gegeben hätte. Ob nun Geld, eingespielte Produktionsabläufe oder das Ringen um Aufmerksamkeit der Grund für die große Box war … wer weiß. Ich finde sie hübsch, wie sie ist, auch wenn darin Platz für mindestens eine Erweiterung bleibt.

Eine Partie „Marvel X-Men – Aufstand der Mutanten“ beginnt immer mit der Wahl einer Plotkarte und der Mutanten, mit denen man spielen will. Das Spiel ist für 1 bis 6 Spieler ausgelegt, wobei man im Solo-Modus schlichtweg 2 Mutanten übernimmt, also einen zweiten Mitspieler simuliert. Dabei hat sich herausgestellt, dass selbst 2 Mutanten eigentlich zu wenig sind beziehungsweise eine Partie deutlich erschweren, denn man muss häufig an mehreren Stellen Brände löschen, damit die Bedrohung nicht zu stark anwächst. Das geht nur mit Personal. Und letztlich sind die „Strafen“ für größere Mutantengruppen eher gering. Hier skaliert das Spiel nicht besonders gut. Am Besten spielt man daher mit 3 bis 4 Mutanten.



Die Plotkarten sollen sich an Comic-Storys aus dem „X-Men“-Franchise anlehnen. Als bestenfalls Teilzeit-Supehelden-Comic-Leser kann ich das nicht beurteilen, aber es ist für den Spielspaß auch nur bedingt wichtig, zu wissen, ob es für die Rettung alter Mutanten von der Insel Krakoa oder den Kampf gegen Magnetos Bruderschaft der Mutanten Heftchen-Vorbilder gibt. Jeder Plot besteht aus 5 Karten: der Start-Plotkarte, 3 Missionen und dann einem Finale. Um sich durch die jeweilige Geschichte zu kämpfen, muss man meist Kontinentmissionen lösen, das heißt nach Europa, Asien, Afrika etc. reisen, um dort Aufgaben zu bewältigen und Schurken zu besiegen.

Diese Aufgaben sind immer gleich aufgebaut. In zwei bis drei Zeilen werden Würfelsymbole angezeigt, die alle Mutanten, die zu dieser Aufgabe gereist sind, in der aktuellen Runde erzielen müssen, damit die Aufgabe erfolgreich abgeschlossen werden kann. Um das zu schaffen, stellt man sich einen Pool aus 6 Würfeln zusammen, der durch die eigene Superkraftkarte (4 Würfel) sowie eine Helferkarte (2 Würfel) bestimmt wird, wobei man entweder seine eigene Helferkarte oder die eines Mutantenkollegen nutzen darf. Rote Würfel sind hierbei Kampfwürfel, gelbe betonen die Teamstärke, blaue stehen für Superkraft. Entsprechend liegt der Fokus dieser Würfel auf Kampf-, Teamwork- oder Superkraft-Ergebnissen. Dreimal darf man würfeln, um auf die benötigten Ergebnisse zu kommen, wobei es schon einigen Glückes bedarf, um damit erfolgreich zu sein.



Eben zu diesem Zweck kommen zahlreiche Sonderfähigkeiten zum Tragen, die entweder auf der eigenen Superkraftkarte oder auf der Helferkarte, auf später erworbenen Mutantenkarten oder auf Bindungskarten (die eine besondere Verbundenheit zwischen zwei Mutanten betonen) zu finden sind. Diese gestatten oft Neuwürfe bestimmter Farbwürfel oder Symbole, sie erlauben das Drehen eines Ergebnisses oder den Einsatz zusätzlicher Würfel beziehungsweise von Trainingsmarkern, die fertige Würfelergebnisse bieten. Durch diese Art von Manipulation versucht man dann, die benötigten Ergebnisse zu erzielen, um die Mission erfolgreich zu beenden und die Belohnung einzukassieren.

Erschwert wird das Agieren der Mutanten einerseits durch die Bedrohungsleiste und andererseits durch die Bedrohungskarten. Die Bedrohungsleiste zählt von 1 bis 15 hoch und wird vor allem durch Schurken und Missionen, die am Ende einer Spielrunde noch auf dem Tisch liegen, erhöht. Auch fehlgeschlagene Missionen und Bedrohungskarten lassen den Zeiger von grün (1-5) über gelb (6-10) nach rot (11-15) wandern. Erreicht er jemals die 15, ist das Spiel vorbei, die Erde versinkt im Chaos. Doch die Bedrohungskarten sorgen für noch mehr Ärger. So können sie den Mutanten Schaden zufügen, Trainingsmarker nehmen, Bindungen zerstören oder gar ins Negative umkehren (aus Liebe wird Hass) und zu guter Letzt Sentinels ins Spiel bringen, die sich an Kontinentmissionen festsetzen und diese durch weitere Würfelanforderungen erschweren.



So würfelt man sich von Runde zu Runde, bewältigt Missionen, besiegt Schurken und kämpft sich im Plot vorwärts bis es zum großen Showdown kommt, oft gegen einen besonders starken Superschurken, der aus gleich 2 bis 3 Karten besteht. In diesem Kampf werden dann entweder alle X-Men „ausgeknockt“ (und verlieren) oder sie triumphieren und fliegen mit dem Blackbird siegreich in den Sonnenaufgang.

Kenner von FFG-Spielen werden womöglich während der letzten Absätze schon aufgemerkt haben. Missionskarten mit Würfelvoraussetzungen? Symbolwürfel, die jene Voraussetzungen in einer Runde erfüllen müssen? Gegner, die diese Missionen erschweren? Bedrohungskarten und eine Bedrohungsleiste? Das alles erinnert stark an das cthuloide Würfelspiel „Das Ältere Zeichen“, nur war man dort mit Ermittlern in einem Museum unterwegs und musste Ältere Zeichen sammeln, um einen Großen Alten zu stoppen, bevor genug Verderbnis angesammelt war, um eben jenen zu wecken. Ja, beide Spiele haben deutliche Parallelen, was vielleicht daran liegen könnte, dass Richard Launius bei beiden einer der zwei Entwickler war (bei „Das Ältere Zeichen“ neben Kevin Wilson, bei „X-Men“ neben Brandon Perdue).



Aber das ist tatsächlich gar keine Kritik. Ein „Älteres Zeichen“, das fast 10 Jahre später im Superheldengewand neu erscheint, ist auch nichts anderes als eine weitere Variante von „Pandemie“, „Die Siedler von Catan“ oder „Monopoly“. Und tatsächlich unterscheidet es sich deutlich genug, dass man sogar beide Spiele im Regal behalten kann, wenn man dieser Art von Würfel-Mechanismus zugeneigt ist. Denn zum einen ist „Marvel X-Men – Aufstand der Mutanten“ spürbar leichter, also familientauglicher. Zum anderen spielt es sich auch schneller als „Das Ältere Zeichen“, wo man manchmal ziemlich mit Verderben und dem Auffinden von Älteren Zeichen rang. Auch die Plots gab es beim älteren Spiel nicht, die immerhin für ein wenig Story sorgen. Dafür war das Würfel-Management mit Ausrüstung und speziell gefärbten Zusatzwürfeln beim Cthulhu-Vorbild ausgefeilter.

Was hier wie da bleibt, ist eine recht hohe Glückskomponente, zum einen durch die Würfel, zum anderen durch die diversen Karten, die zufällig aufgedeckt werden – Missionen wie Bedrohungskarten. Da können zwei Partien, obwohl man den gleichen Plot spielt, sehr unterschiedlich verlaufen. Der geschickte Einsatz von Fähigkeiten und vor allem von Trainingsmarkern vermag das zwar etwas abzuschwächen, aber wer lieber betont planvoll taktiert, ist hier falsch.

Man könnte kritisieren, dass die Auswahl an Bedrohungskarten (10 pro Farbe), an Kontinentmissionskarten (5 pro Kontinent) und an Schurkenkarten (auch 5) eher gering ist, was gerade bei mehreren Partien in kurzem Abstand für Wiederholungen sorgt. Uns ist das jedoch nicht negativ aufgefallen, denn durch die vielfältigen Kombinationen – man nutzt unterschiedliche Plots, selten alle Kontinente und garantiert nicht alle Bedrohungs- oder Schurkenkarten in einer Partie – fühlt sich jedes Spiel doch wie eine eigene Herausforderung an. Abgesehen davon ähneln die sich natürlich sowieso immer, weil es letztlich immer darum geht, Würfelanforderungen zu erfüllen. Anders als bei einem von der Story angetriebenen Abenteuerspiel steht bei so einem Quasi-Euro-Game ja der Mechanismus im Vordergrund. Bei „Die Siedler von Catan“ beschwert sich ja auch niemand, dass es nur eine Handvoll Landschafts- und Ressourcenarten gibt. Es existiert auch kein Erzähltext, der sich wiederholen würde (von den Plot-Karten selbst abgesehen). Dennoch ist natürlich hier Luft nach oben. So bekam auch „Das Ältere Zeichen“ einen ganzen Schwung Erweiterungen spendiert. Mal sehen, wie es hier weitergeht. Marvel-Helden und -Schurken gäbe es jedenfalls genug, um die X-Men in Zukunft noch zu ergänzen. Man denke etwa an die Avengers oder die Fantastic Four.

Fazit: „Marvel X-Men – Aufstand der Mutanten“ ist ein kurzweiliges Würfelspiel, das Mechanismen von „Das Ältere Zeichen“ mit Superhelden paart und zur flotten Familienunterhaltung werden lässt. Die Glückskomponente ist relativ hoch, aber wer so Würfelorgien mag, der nimmt das gern in Kauf, zumal viele Sonderfähigkeiten die Manipulation der Würfel gestatten. Der UVP von 49,99 Euro erscheint angesichts der keineswegs vollen Spielbox zu hoch gegriffen, aber   wer sich ein wenig umschaut, findet das Spiel problemlos gute 10 Euro billiger – und für den Preis bekommen Spieler, die Superhelden und Würfel mögen, wirklich einiges an Spielspaß geboten.

Marvel X-Men – Aufstand der Mutanten
Brettspiel für 1 bis 6 Spieler ab 14 Jahren
Richard Launius, Brandon Perdue
Fantasy Flight Games/Asmodee 2021
EAN: 4015566029507
Sprache: Deutsch
Preis: EUR 49,99

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