Marvel United

Bis vor Beginn der Corona-Epidemie und den damit einhergehenden Kinoschließungen war das Marvel Cinematic Universe (MCU) Garant für Blockbustererfolge in Reihe. Die Welt wollte Iron Man, Thor, Captain America & Co in Aktion sehen. Neben unzähligen Comics erschienen passend dazu Romane, Spielzeug und – natürlich – auch Brettspiele. Eins davon ist „Marvel United“ von CMON, das in der heutigen Situation etwas „zu spät erschienen“ wirkt. Funktioniert das Spiel auch ohne den Hype-Train der Kinofilme?

von Frank Stein

Wie so viele Spiele von CMON war auch „Marvel United“ zunächst ein Kickstarter-Projekt, das vom 11. Februar bis 5. März 2020 lief und bei dem spektakuläre 21.290 Unterstützer ganze 2.866.168 $ investierten (ohne die zusätzlichen Käufe im Pledge Manager gerechnet). Gleich sechs Erweiterungen und eine eindrucksvolle Riege an Stretch-Goal-Helden und -Schurken wurden mitfinanziert, nicht wenig davon wie so oft KS-exklusiv, zum Ärger aller zu spät Gekommenen. Das Spiel soll im Frühjahr 2021 an die Backer ausgeliefert werden, die Grundbox ist allerdings bereits jetzt im Handel erschienen. Auch das ein bekanntes Prozedere bei den erfolgreicheren Kickstartern der letzten Jahre – und im Gegenzug nicht selten ein Ärgernis für die Backer.

Doch verlieren wir uns nicht in Drumherum, sondern widmen uns dem, was tatsächlich auf dem Tisch liegt. „Marvel United“ erscheint in einer zunächst überraschend kleinen Box, kommt also nicht im typischen Maß von 30x30 cm daher, sondern nur mit 26x26x7 cm. Beim ersten Blick ins Innere scheint das auch zu reichen. Es gibt zwei Fächer für die 84 Heldenkarten, 36 Masterplan-Karten, 18 Bedrohungskarten und 3 Herausforderungskarten, außerdem ein Fach für diverse Marker (Lebensmarker, Krisenmarker, Aktionsmarker, Bedrohungsmarker, etc.) und ein Inlay für die 7 Helden und 3 Schurken (Captain America, Iron Man, Black Widow, Captain Marvel, Hulk, Wasp und Ant-Man vs. Red Skull, Ultron und Taskmaster). Obenauf werden die 8 Ortspläne, die 3 Schurkentableaus, der Einsatzplan und die Spielregeln gepackt.


    Aufbau einer 2-Spieler-Partie: Ant-Man und the Wasp vs. Ultron.

Das funktioniert so alles gut, bis man anfängt, Karten zu sleeven und Marker (mindestens) in Ziplock-Beutel zu sortieren. In dem Moment wird es sehr eng, und da das Inlay für die Miniaturen auch fest mit dem Teil für die Karten und Marker verbunden ist, kann man nicht mal Platz schaffen, indem man jenen zweiten Teil aus der Box nimmt und den Leerraum darunter nutzt. Für Spieler, die gern Ordnung in der Box haben, ist das etwas unerfreulich. Drei Alternativen hat man: 1) die Marker lose ins kleinste Fach packen (und Reste irgendwo in der Box verteilen), 2) die Marker in einem extra Sortierkästchen außerhalb der Spielbox aufbewahren (um alle drei Fächer für die gesleevten Karten nutzen zu können) oder 3) eine Sortierlösung wie etwa das Schaumstoff-Set von Feldherr extra erwerben.

Die Qualität der Spielmaterialien geht überwiegend absolut in Ordnung, ohne allerdings zu Begeisterungsstürmen hinzureißen. Die Helden und Schurken sind – gezeichnet wie als Figuren – im Chibi-Stil gehalten, das heißt sie haben große Köpfe und vergleichsweise kleinere Körper. Das muss man mögen, aber da der Stil schon auf dem Cover zu erkennen ist, kauft hier niemand die Katze im Sack. Die Illustrationen sind flott und bunt wie aus einem Superhelden-Comic, und dass ein Zwölfersatz Heldenkarten nicht zwölf verschiedene Hulk- oder Ant-Mman-Motive zeigt, sondern nur vier, ergibt insofern Sinn, als dass die Motive jeweils mit den Aktionen der Karte korrelieren (Bewegung, Angriff, Heldentat oder Joker).

Die Marker bestehen alle aus stabiler Pappe und sind von der Symbolik her gut zu verstehen. Die Ortspläne, der Einsatzplan und die Schurkentableaus wurden allerdings leider nur aus dünner (Spielkarten)Pappe gefertigt. Der Kickstarter ließ damals die Option, Ortspläne aus dicker Pappe extra zu kaufen. Es wäre schön gewesen, wenn die gleich in der Grundbox gewesen wären, denn zumindest die breiten, schmalen Schurkentableaus neigen dazu, sich zu wellen. Das stört das Spiel keineswegs, sieht aber nicht so hübsch aus, wie es aussehen könnte.


    Auf die letzten zwei Karten ist es the Wasp gelungen, Ultron zu besiegen.

Die enthaltene Auswahl an Spielmaterial ist für mehrere Partien vollkommen ausreichend. 1 bis 4 Spieler übernehmen jeweils einen Helden (im Solo-Spiel nimmt man 3), das heißt die Auswahl ist bei 7 Helden zwar nicht episch, aber erlaubt doch einige Kombinationsmöglichkeiten. Auch die 3 Schurken sorgen für Abwechslung. Von den 8 Orten werden pro Partie stets 6 gebraucht. Hier hätten es gern noch 2 bis 4 mehr sein dürfen. Aber zumindest 4 Erweiterungen (zu den Filmen Black Panther, Thor, Guardians of the Galaxy und Spider-Man) sind ja geplant, also lässt sich das Spielmaterial leicht und auch (vom Spielprinzip her) problemlos erweitern.

Zu Beginn einer Partie wird das zentrale Schurkentableau ausgelegt, inklusive der 3 Missionskarten (Verbrecher besiegen, Zivilisten retten, Bedrohungen beseitigen – mehr gibt es im Grundspiel auch nicht, aber das mag sich mit den Erweiterungen ändern). Drumherum werden zufällig sechs Orte verteilt, etwa die Avengers-Villa, das Stark-Labor oder der Central Park in New York, der Stadt, die Schauplatz des Spiels ist. An jedem Ort wird dann eine Bedrohungskarte angelegt, die negative Effekte hat und bezwungen werden kann, um den positiven Effekt des Orts darunter „freizuschalten“. Außerdem werden auf die Orte eine feste Zahl Zivilisten und Verbrecher gelegt, die man – siehe gerade eben – retten respektive bekämpfen kann. Die Marker kommen dann später auf die entsprechenden Missionskarten, und sind diese erfüllt, ändern sich die Spielbedingungen. So kann ein Endgegner erst angegriffen werden, wenn zwei beliebige Missionen geschafft wurden. Bereits nach einer geschafften Mission wird die Spannungsschraube angezogen, indem der Endgegner nun häufiger zuschlägt.


    Helden & Schurken der Grundbox.

Als nächstes wählt jeder Spieler einen Helden aus, außerdem wird ein Schurke als Endgegner festgelegt. Die Helden und Schurken spielen sich erfreulicherweise durchaus unterschiedlich. Bei den Helden fällt das nicht ganz so stark auf, da natürlich alle Helden auf ihren Karten alle Aktionsarten haben. Allerdings zeigt ein genauerer Blick, dass die Verteilung voneinander abweicht und natürlich sind auch die Spezialeffekte individuell. So sind Captain Marvel und Hulk stark im Kampf, Wasp dagegen hoch beweglich und Ant-Man punktet durch Heldentaten und Effekte, die ihn flexibel im Einsatz machen (passend zu seiner variablen Größe). Die Schurken dagegen wollen sehr unterschiedlich bekämpft werden. Red Skull versucht eine Schreckensleiste zu füllen. Damit gilt er als Einstiegsgegner. Ultron flutet das Spielfeld mit seinen Verbrechern (und sobald es voll ist, haben die Helden verloren). Taskmaster schließlich blockiert die Helden mit Krisenmarkern, und solange irgendwo eine Krise herrscht, kann man ihn nicht angreifen, es besteht also die Gefahr, dass eine Partie über Zeit verloren wird. Dazu gleich mehr.

Nachdem jeder Spieler seine 12 Heldenkarten gemischt und 3 gezogen hat, geht es los. Gespielt wird in Runden, die aus zwei Spielzügen bestehen. Zunächst findet ein Schurken-Spielzug statt, in dem eine Masterplan-Karte vom gemischten Stapel gezogen und ausgeführt wird. Meist bewegt sich dabei der Schurke, verwundet die Helden, schickt neue Verbrecher auf den Spielplan oder erzeugt Krisen(marker). Danach folgen 3 – beziehungsweise nach der ersten geschafften Mission nur noch 2 – Heldenzüge im Uhrzeigersinn. Diese sind flott abgehandelt. Ein Held zieht eine Karte von seinem Heldenstapel und spielt dann eine Karte von der Hand aus, deren Symbole er dann für Bewegungen, Angriffe und Heldentaten nutzt (ein Jokersymbol bietet freie Wahl). Wichtig ist, dass Masterplan- und Heldenkarten in einer fortlaufenden Reihe gespielt werden, denn so entwickelt sich laut Regeln „die Geschichte“. De facto heißt das aber nur, dass ein Spieler neben den Symbolen auf der selbst gespielten Heldenkarte auch immer die der vom letzten Spieler gespielten Karte für seinen Helden nutzen darf. Hat also Ant-Man eben zwei Heldentaten gespielt und Captain Marvel spielt jetzt zwei Angriffe, hat Captain Marvel zwei Heldentaten und zwei Angriffe in seinem Zug zur Verfügung.

Dieses taktische Element stellt gewissermaßen den Kern des Spiels dar. Das gezielte Zusammenspiel der Helden entscheidet durchaus über Sieg oder Niederlage, denn zum einen üben die Schurken durchaus Druck aus, zum anderen hat man auch nicht ewig Zeit für eine Partie. So verlieren die Spieler, wenn der Schurke seinen finsteren Plan (wie auf dem Schurkentableau festgelegt) durchführen kann, wenn der Stapel mit Masterplan-Karten leer ist (es gibt 12 für jeden Schurken) und/oder wenn ein Held seinen Zug beginnt und alle Heldenkarten (auch 12) schon gelegt hat. Die behaupteten 40 Minuten Spieldauer sind also durchaus realistisch. Länger als eine Stunde dauert eine Partie wirklich nur bei sehr nachdenklichen Mitspielern.


    Auch solo funktioniert das Spiel hervorragend. Hier im Team: Iron Man, Hulk und Black Widow.

Bewegen, Bedrohungen beseitigen, Verbrecher besiegen, Zivilisten retten, Missionen erfüllen und schließlich dem Endgegner eins auf die Mütze geben, bis seine je nach Spielerzahl mehr oder weniger üppigen Lebenspunkte auf null sind: Das ist „Marvel United“. Die behauptete Geschichte spürt man dabei nur in Ansätzen. Klar, man könnte jede Handlung auch erzählerisch umsetzen, also wenn sich der Taskmaster ins Stark-Labor begibt und dort eine Krise auslöst, während Hulk im Central Park Verbrecher plattmacht. Aber dafür ist das Spiel zu schnell und die Mechanik beschäftigt einen deutlich stärker als die „Handlung“. Das macht absolut nichts, sollte aber allen Spielern klar sein, die bevorzugt in andere Welten eintauchen und dort Abenteuer erleben, wie es zum Beispiel bei „Villen des Wahnsinns“ oder – mit Abstrichen – bei „Zombicide“ möglich ist.

Fazit: „Marvel United“ ist ein flottes, kooperatives Superhelden-Spiel, das durch clevere Effektkombinationen Bedrohung aufbaut und auch wieder bewältigen lässt. Der Immersionsgrad ist eher gering, aber der Spielverlauf trotzdem immer spannend, weil man sowohl gegen die Zeit (beziehungsweise das Kartenlimit) spielt als auch gegen die fiesen Schurken-Mechanismen. Kein Genre-Schwergewicht wie „Cthulhu: Death May Die“ oder gar „Tainted Grail“, aber dafür kostet das Grundspiel je nach Anbieter auch nur gut ein Drittel der zwei genannten Spiele. Für eine Partie zwischendurch, als Aufwärmer oder Absacker durchweg zu empfehlen, vor allem natürlich, wenn man Spaß am Marvel-Universum und kein Problem mit der Chibi-Optik hat.

Marvel United
Brettspiel für 1 bis 4 Spieler ab 10 Jahren
Eric M. Lang, Andrea Chiarvesio
CMON/Asmodee 2020
EAN: 4015566601765
Sprache: Deutsch
Preis: EUR 39,99

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