Märchenstunde

Märchen und „Cthulhu“, das gehört bereits seit den „Froschkönigfragmenten“ zusammen. Und auch wenn es sicherlich kein Dauerthema im deutschen Abenteuerrepertoire ist, so schickt sich doch hin und wieder eine Publikation an, diese Themen neu zu verweben. So nun also auch „Märchenstunde“, der neueste Abenteuerband.

von Jens Krohnen

Gleich drei Abenteuer mit Bezug zu deutschen Märchen hat Redakteurin Finja Gertulla in diesem Band versammeln können. Auf 68 Seiten im Softcover erhält der Spielleiter also reichlich Material, um die Spieler mit eigentlich märchenhaften Motiven das Fürchten zu lehren. Sehen wir uns die einzelnen Abenteuer einmal kurz an.

Eröffnet wird der Band mit „Eine unbeglichene Schuld“ von Steffi Hefner. Dieses Abenteuer ist gleich doppelt interessant, denn neben dem diesem Band innewohnenden Oberthema greift es auch die Stadt Kamborn als Setting auf. Damit wird dieser fiktive Ort auch abseits der reinen „Kamborn“-Publikationen noch ein wenig mehr vertieft, was mir gut gefällt. Inhaltlich dreht sich das Abenteuer um eine Blutschuld, welche ausgerechnet die Gebrüder Grimm bei einem kurzen Besuch in der Stadt auf sich geladen haben. Nachdem sie auf dem örtlichen Jahrmarkt eine Hexe um ihren Lohn geprellt haben, stößt diese einen furchtbaren Fluch aus. Fortan verwandeln sich alle 50 Jahre einige Einwohner Kamborns in grausige Karikaturen grimmscher Märchengestalten und halten blutige Ernte. Und just als die Investigatoren den Jahrmarkt besuchen, jährt sich der Vorfall zum 100. Mal. „Eine unbeglichene Schuld“ ist eine sehr starke Eröffnung für diesen Band. Zwar wirkt die Vorgeschichte ein wenig konstruiert, doch dies tut der Qualität des übrigen Abenteuers keinen Abbruch. Es gibt grausige und blutige Szenen, eine interessante Schnitzeljagd, spannende Nichtspielercharaktere und darüber hinaus auch noch verschiedene Möglichkeiten, um das Szenario zu einem mehr oder minder guten Ende zu bringen.

Das zweite Abenteuer heißt „Und wenn sie nicht gestorben ist …“ und stammt aus den Federn von Sabrina und Christian Hubmann. Hier stellen sich die Autoren der Frage, was eigentlich geschehen könnte, wenn die Hexe aus dem Märchen „Hänsel und Gretel“ den Backofen überlebt hätte? Vielleicht wäre sie von einem verdorbenen Hexenmeister wiederbelebt worden und könnte noch heute als ekliges Kriechendes Wesen ihr Unwesen im Wald treiben? Vielleicht hat sie es auch auf die Nachfahren von Hänsel und Gretel abgesehen und will furchtbare Rache für das, was sie ihr angetan haben? Vielleicht es ist es gar keine gute Idee, den jungen Freund in die Hütte im Wald zu begleiten, wo er nach der plötzlichen Erkrankung seines Vaters nach dem Rechten sehen will? Und ist die alte Haushälterin wirklich so freundlich, wie sie tut? Die Grundidee hinter dem Abenteuer ist grandios und die cthuloide Verquickung wirklich gut gelungen. Leider ist das Abenteuer selbst dann ein wenig kurz und eindimensional geraten – neben einer Durchsuchung der Waldhütte, einer kurzen Gefangennahme und dem obligatorischen Finale gibt es wenig für die Investigatoren zu tun. Dafür entschädigen Flair und Stimmung, und manchmal sucht man ja auch ein Kurzabenteuer, um einen Abend zu überbrücken.

Abgeschlossen wird der Band mit dem Szenario „Undine“ von Andreas Osterroth. „Undine“ ist nicht nur das seitenzahlstärkste, sondern auch komplexeste Abenteuer in diesem Band. Dabei ist die Prämisse eigentlich ganz einfach: Die Investigatoren müssen an Bord eines kleinen Handelsschiffes einen Pakt mit einer Meerjungfrau – Undine – eingehen. Damit das zornige Wasserwesen nicht das Schiff versenkt, sollen sie ihm einen kleinen Gefallen tun und in einer Bibliothek auf Sylt eine Zeichnung von einer Tür entfernen. So weit, so simpel. Dem Autor gelingt es aber, aus dieser eigentlich sehr einfachen Angelegenheit ein großartiges Szenario zu stricken. Denn natürlich ist die Meerjungfrau eine cthuloide Kreatur, eng verzahnt mit den Tiefen Wesen. Was also kann sie wirklich bezwecken? Und: Ist es eine gute Idee, dem Wunsch dieser Kreatur einfach Folge zu leisten? Dieser innere Konflikt wird darüber hinaus mit zahlreichen weiteren Komponenten angereichert – einem Forscher des Okkulten, der seine eigenen Ziele mit den Tiefen Wesen verfolgt, Inselbewohnern mit eigenen Interessen und Wünschen, einem kleinen Ghoul-Rudel, welches ebenfalls eigene Pläne hat und darüber hinaus ganz viel Lokalkolorit und Seemannsgarn. „Undine“ kann möglicherweise unter zwei Problemen leiden: Einerseits können die Investigatoren ohne viel Nachdenken und ohne viel Federlesen das Szenario sehr schlicht beenden, wenn sie einfach den Pakt erfüllen. Für andere Gruppen mag die Vielzahl von Optionen das Szenario überfrachten. Wer sich aber die Zeit nimmt und darauf einlassen mag, kann ein paar sehr absonderliche, stimmungsvolle und garantiert erinnerungswürdige Tage auf Sylt erleben.

Wie für die cthuloiden Softcoverbände üblich erscheint „Märchenstunde“ im Schwarz-Weiß-Druck. Neben den obligatorischen Photographien, die passend wie stimmungsvoll ausgewählt wurden, haben sich auch einige (zweitverwertete, aber qualitativ hochwertige) Illustrationen in diesen Band verirrt. Besonders gelungen sind wieder einmal die Handouts, welche dieses Mal wieder etwas zahlreicher vorhanden sind. Außerdem wurden dem Band einige Karten spendiert, was die Vorbereitung für die Spielleitung erleichtern dürfte. Technisch gibt es damit nichts zu meckern, der Band reiht sich nahtlos in die hohe Qualität der Reihe ein.

Fazit: „Märchenstunde“ ist ein toller Abenteuerband, welcher das Oberthema mit drei sehr unterschiedlichen Abenteuern variantenreich umsetzt. Wer sich mit dem Thema anfreunden kann, sollte unbedingt zugreifen.

Märchenstunde
Abenteuerband
Finja Gertulla, Andreas Osterroth u. a.
Pegasus 2025
ISBN: 978-3-9692-8145-1
68 S., Softcover, deutsch
Preis: 14,95 EUR

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