Iron Kingdoms Entfesselt

Willkommen auf der wilden Seite der Eisernen Königreiche! Mit „Entfesselt“ werden die wilden Völker des – bereits aus Tabletop und Rollenspiel sattsam bekannten – Settings der Iron Kingdoms spielbar gemacht. Wie gelungen ist der Ausflug in die Wildnis?

von André Frenzer

Es ist ein stolzer Preis, den der deutsche Verlag Ulisses Spiele für diesen Ableger der „Iron Kingdoms“-Rollenspielreihe verlangt. Doch dafür liefert Ulisses auch einen amtlichen Hardcover-Wälzer mit 480 vollfarbigen Seiten ab, dem dankenswerterweise auch ein Lesebändchen spendiert wurde. Was aber findet sich zwischen den stabilen Buchdeckeln?

Inhalt

Bereits ein erster Blick ins Inhaltsverzeichnis verrät: Hier erwartet Leser wie Spieler eine Menge Material! Der obligatorischen Einleitung schließt sich eine umfangreiche Settingbeschreibung an. Auf knapp 100 Seiten erfahren wir eine ganze Menge über die Wildnis von West-Immoren, dem Setting der Eisernen Königreiche und „Entfesselt“. Dabei liegt der Fokus ganz klar auf der Wildnis des Landes und seiner Bewohner. Die Eisernen Königreiche selbst werden nur am Rande erwähnt und dienen den Helden aus „Entfesselt“ dann auch eher als Antagonisten, denn als Anlaufstelle für das normale Abenteurerleben.

Die nächsten Kapitel stellen dann – auf noch einmal deutlich mehr Seiten, knapp 250 an der Zahl – den „Crunch“ des Systems vor. Umfangreiche Charaktergenerierungsregeln ermöglichen das Spiel von ganz unterschiedlichen Völkern und Klassen. Den Großteil des eigentlichen Regelkerns nehmen – naturgemäß – die Kampfregeln ein. Doch noch weitaus umfangreicher werden Magie, Ausrüstungslisten, das „Knochenmahlen“ – eine Art Alchemie der wilden Völker – und magische Gegenstände vorgestellt. Ein ganz eigenes Kapitel widmet sich dem Umgang mit sogenannten „Warbeasts“, mächtigen Kreaturen, die von bestimmten Zauberwirker an sich gebunden und im Kampf befehligt werden können. Mit den Warbeasts wird gleich auch eine Art „Spiel im Spiel“ eingeführt, denn die Spieler können ihre Warbeasts hegen, pflegen und immer weiter verbessern – was ein wenig an Regelkonstrukte wie den Basenbau in dem Rollenspiel „Contact“ erinnert.

Die letzten Kapitel sind dann eher dem Spielleiter gewidmet. Ein umfangreicher Kreaturenkatalog stellt die gefährliche Fauna West-Immorens vor, während ein eigenes Spielleiterkapitel Kampagnenkonzepte, Szenarien-Aufhänger und das Aufstellen von interessanten Herausforderungen beinhaltet. Einfache Regelmechanismen für die Veränderung von Kreaturenwerten mithilfe von sogenannten „Schablonen“, einige Spielhilfsmittel zum Kopieren sowie ein umfangreicher Index runden den Band ab.

Die Regeln

„Entfesselt“ ist ein rechter Regelbrocken. Seine Wurzeln liegen ganz klar in der Tabletop-Variante der Eisernen Königreiche „Hordes“, welches ebenfalls den wilden Völkern West-Immorens gewidmet ist.

Die Charaktererschaffung sieht starke, heldenhafte Charaktere vor. Hier werden keine blutigen Anfänger generiert, sondern Helden, die bereits viel für ihr Volk getan haben. Deswegen erhält jeder Charakter gleich zwei Klassen, die größtenteils frei wählbar sind – einige jedoch sind klar abhängig von der Wahl des Volkes. Dadurch ergeben sich zwar auf den ersten Blick reichlich viele Kombinationsmöglichkeiten, doch der Teufel steckt natürlich im Detail: nicht jede Klassenkombination erscheint sinnvoll und letzten Endes sind es auch nicht so viele Klassen, als dass man mit der Auswahl überfordert wäre.

Der eigentliche Probenmechanismus erweist sich als recht simpel: geworfen werden zwei sechsseitige Würfel, Fertigkeits- und Attributswerte werden addiert und das Ergebnis anschließend mit einem vom Spielleiter festgelegten Schwierigkeitsgrad verglichen. So weit, so simpel. Die Menge an Boni und Fertigkeiten sorgen aber dafür, dass Regelfüchse voll auf ihre Kosten kommen. Umfangreicher sind die Kampfregeln, die ganz klar den Einsatz von Miniaturen zur Visualisierung der Kampfszenen bevorzugen und damit viel Wert auf Themen wie Größe der Kämpfenden, Bewegungsweite, Sichtlinien und verschiedene „Zustände“ wie „Umgeworfen“ legen. Zwar wird der Einsatz von Miniaturen dringend empfohlen – zwangsweise notwendig wird er jedoch nicht. Wer darauf verzichtet, erhält aber ein sehr abstraktes Kampfsystem, dass sehr detaillierte Beschreibungen der Spielleitung erfordert.

Im Rahmen dieser Rezension kann ich unmöglich auf alle Spielmechanismen eingehen. Ich kann aber versichern, dass der weitere Regelkatalog – von der Alchemie über die Zauberlisten bis hin zur Ausrüstung – wirklich umfangreich geworden ist und nahezu alles abdeckt, was sich ein Spieler in der Wildnis West-Immorens vorstellen kann.

Aufmachung

„Entfesselt“ ist reichhaltig bebildert. Wer bereits ein wenig Erfahrung mit den Tabletop-Büchern sammeln konnte, wird die ein oder andere Illustration sicher wiederfinden. Das ändert jedoch nichts an dem hervorragenden Eindruck und der hohen Qualität, die die Illustrationen vermitteln. Das Regelwerk ist reichhaltig mit Überschriften und Zwischenüberschriften gegliedert, optisch leicht erkennbare Extrakästen versorgen Spieler wie Spielleiter mit zusätzlichen Informationen. Für die optische Aufbereitung gibt es eine Bestnote – einzig die Schriftart des Fließtextes ist mir ein wenig klein geraten. Doch natürlich kommen wir auch so bereits auf 480 Seiten!

Leider hätte dem Band ein letztes Korrektorat noch gut zu Gesicht gestanden. Es ist natürlich sehr viel Text und die Fehlerdichte nicht so häufig, dass sie den Lesefluss wirklich stören würde. Doch es ist auffällig, dass sich hier mehr Rechtschreibfehler oder Wortwiederholung eingefunden haben, als ich es von Produkten aus dem Hause Ulisses gewöhnt bin.

Kritik

Was also denke ich nun über „Entfesselt“? Es ist umfangreich, detailverliebt, komplex. Der Hintergrund strotzt nur so von interessanten kleinen Details und aufregenden, neuen Ideen. Die Charakterklassen sind teilweise echt spannend und neu zu erleben. Die Kreativität, mit der bekannte Elemente – wie Voodoo-Priester – mit neuen Ideen angereichert werden, ist wirklich inspirierend. Auch der Kreaturenkatalog enthält wenige „alte Bekannte“, sondern eine illustre Riege ungewöhnlicher Neuschöpfungen – auch, wenn sich die eine oder andere Kreatur ähneln.

Dazu kommt, dass „Entfesselt“ ein wirklich komplettes Regelwerk ist, welches alleine viele Stunden Spielspaß garantiert. Das Setting ist umfangreich dargelegt, die Regeloptionen vielfältig, die Materialliste umfangreich. Es gibt eigentlich nur zwei Wermutstropfen, die mich an einer uneingeschränkten Empfehlung hindern.

Zunächst ist da das Fehlen eines Einsteigerabenteuers. Dank des günstigen „Abenteuer-Sets“, dem Spielleiterkapitel und den vielen Plot-Hooks im Hintergrundteil tritt dieses Manko allerdings in den Hintergrund. Schwerer wiegt in meinen Augen die doch sehr spezielle Thematik. Einmal die „Wilden“, die „Ureinwohner“ einer Fantasy-Welt zu spielen, als Troll, Alligatormensch oder finsterer Druide auf der Seite der Natur zu stehen und den anrückenden Menschen den Zutritt in die ewigen Wälder so schwer wie möglich zu gestalten – das ist sicherlich ein interessanter Aspekt, den gerade Kenner des Settings mögen werden. Ich wage jedoch den Wiederspielwert einer solchen Abenteueridee zu bezweifeln – und für einen gelegentlichen „One Shot“ ist der Preis des Grundregelwerkes eigentlich zu hoch angesetzt.

Fazit: „Entfesselt“ ist ein umfangreiches, vollfarbiges, 480 Seiten starkes Grundregelwerk mit einem durchdachten Regelkern und umfangreichen Kampfregeln. Es spricht eher die Regelfüchse oder Tabletop-Spieler an und erledigt seine Aufgabe, ein kampfbetontes, wildes Rollenspiel zu bieten, sehr gut. Einzig das sehr spezielle Thema in Verbindung mit dem hohen Preis verhindert eine uneingeschränkte Empfehlung.

Edit: Ulisses Spiele hat uns darauf hingewiesen, dass es folgende Abenteuer kostenlos zum Download gibt: das "Abenteuerset", das Schnelleinstiegsszenario "Ein Spaziergang im Park" sowie "Der Verrat von Dakaan".

Iron Kingoms Entfesselt
Regelwerk
Jason Soles, Douglas Seacat, Matthew D. Wilson u. a.
Ulisses Spiele 2016
480 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 59,95

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