Hen Kai Pan

Eine junge Frau mit sechs Armen blickt uns ernst an. Über ihr thront der Titel „Hen Kai Pan“. Übersetzt heißt das in etwa „Eins und Alles“. Im Hintergrund sind skizzenhaft angedeutet ein Frauengesicht, ein Walross, mysteriöse Blitze sowie ein gigantischer Berg, vor dem eine schattenhafte Figur steht. Was bedeutet das alles?

von Daniel Pabst

Der Titel „Hen Kai Pan“ ist erdacht und gezeichnet von Eldo Yoshimizu. Bekannt könnte der Mangaka allen sein, die seine Titel „Gamma Draconis“ und „Ryuko“ gelesen haben. All diese Werke sind auf Deutsch bei Carlsen Manga erschienen. „Hen Kai Pan“ kommt in einer hochwertigen Softcover-Variante mit 188 Seiten daher, wovon neben dem Umschlag die ersten fünf Seiten in bunt abgedruckt wurden.   

Den Anfang dieses Mangas macht ein Vorwort von Yoshimizu aus dem Jahre 2021. Darin teilt er mit, dass ihn die Themen Klimawandel, Hungersnöte und die Abholzung der Wälder sehr berühren. Doch da diese Themen weitestgehend aus der Sicht der Menschen diskutiert werden, dachte er, es wäre an der Zeit, die Erde selbst zu Wort kommen zu lassen. Wie denkt sie über menschengemachten Probleme, die nicht nur sie bedrohen? Dabei scheint die Realität in Zeiten sich geradezu überschlagender Krisensituationen die Fiktion einzuholen. Yoshimizu entschied sich deswegen während der Pandemie im Jahre 2021 dazu, allein einen Waldspaziergang zu machen und in Ruhe über die Veröffentlichung nachzudenken. Die Stille und das Vogelgezwitscher dort führten nicht zum Ende des Projekts, sondern zur Ergänzung seiner Gedanken, um die nicht weniger schwere Frage: „Würde es der Erde nicht besser gehen ohne die Menschen?“.
 
Das Vorwort nimmt den Verlauf nicht vorweg und doch ist man einigermaßen vorgewarnt auf die Lesereise von „Hen Kai Pan“. Auch wenn das Genre „Mystery“ für den Manga gewählt wurde, so enthält er viele weitere Facetten (nicht allein zum Umweltschutz). „Wo anfangen, wo enden?“, denkt man sich bei „Hen Kai Pan“. Am Anfang lernen wir eine junge Frau namens Asura kennen. Diese verübt Angriffe auf ein Atomkraftwerk in Japan und auf ein nuklear betriebenes U-Boot in der Arktis an der Küste von Spitzbergen. Kurze Zeit später sehen wir sie in Süd-Arizona in einem Naturpark wandern und ein Präsident steht nicht unweit verloren auf der falschen Seite einer Mauer. Begleitet wird Asura in den USA von einer sprechenden Gabelhornantilope, die ihr den Erdgeist vorstellt, welcher nicht am sausenden Webstuhl der Zeit schafft, sondern in Menschengestalt achtlos weggeworfenen Müll einsammelt. Das klingt absurd? Tja, und dies ist erst der Anfang der Geschichte …

Was bei der – lange Zeit rätselhaften – Geschichte sofort ins Auge springt, sind die Zeichnungen. Ein weiteres Mal zeigt Yoshimizu sein Handwerk, welches er mit der Bildhauerei und der Installation von Werken im öffentlichen Raum erlernte. Man kann sich gut vorstellen, wie er auch bei seinen Zeichnungen und der Gesamtkomposition ähnlich eines Bildhauers seine Arbeit herausarbeitet und stetig verfeinert. Teils sehr realistisch gelingen ihm Gesichtszüge, Gebäude, Landschaften oder Tiere. Wiederum abstrakt, aber auch verspielt und mit einem Hang zum Minimalismus zeichnet er Actionszenen, Verwandlungen, Wendepunkte oder Symbole, wie den Kondor, der über eine Seite fliegt (als Anlehnung an die „Nazca-Linien“ aus Peru).

Kommen wir zum Schluss noch einmal zum Titel zurück und der Frage, was die Erde bei „Hen Kai Pan“ antwortet. Eine Antwort allein, das kann verraten werden, wird es in diesem Manga nicht geben. Das Werk dient als Gedankenanregung. Beinahe erschreckend ist die Aktualität. Da am Ende hier alles nur ein Manga ist, wird zwar niemand nach dem Lesen zur Verantwortung gezogen, dennoch ist und bleibt das Werk keine leichte Kost.
Viele gezeichneten Elemente geben aber auch Mut. Denn so ungern man jetzt lesen möchte, dass es zum „finalen Showdown“ kommen wird, so interessant sind die magischen Momente. Da wären die hoffnungsvollen tibetischen Gebetsfahnen, die über zwei Seiten wehen, die Frau auf dem Cover, die an die Gottheit „Durga“ („die schwer zu Begreifende“, die für die Vollkommenheit steht) erinnert, ein Kapitel mit dem Namen „Samsara“ („beständiges Wandern“, das für den Kreislauf des Seins steht) oder auch die schattenhafte Figur vor den Bergen, die wir später auf einer Doppelseite wiedersehen werden. Wie schnell sieht man da das berühmte Gemälde von Caspar David Friedrich „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ von 1818 vor seinem inneren Auge. Ist das ein Zufall? Genug Interpretationsmöglichkeiten für ein zweites Lesen gibt es allemal.
 
Leseprobe

Fazit: Wer an einem Perspektivwechsel auf die menschengemachten Krisen interessiert ist, die Kraft in diesen Zeiten dazu aufbringt und mit fantastischen Zeichnungen belohnt werden möchte, der darf einen Blick in diesen Manga werfen. Eldo Yoshimizu lässt dabei reichlich Spiritualität einfließen, was man mögen muss oder aushält. Allein der Grundgedanke, dass die Erde auf die Menschheit schaut, lässt erahnen, wer die Protagonistin sein wird. Neben dieser Leseempfehlung bleibt abschließend zu hoffen, dass die – zum „Earth Day 2022“ gewählte – Veröffentlichung von „Hen Kai Pan“ nicht bloß ein weiterer fruchtloser Weckruf unter vielen bleiben wird.

Hen Kai Pan
Manga
Eldo Yoshimizu
Carlsen Manga 2022
ISBN: 978-3-551-74280-3
188 S., Softcover, deutsch
Preis: EUR 16,00

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