von LarsB
Wir hatten alle einen Tag zum Wegwerfen. Schon das Frühstück war blöd (Schimmel auf der Lieblingsmarmelade) und dann, aus heiterem Himmel, werden wir auch noch enthauptet und finden uns an einem schäbigen Ort wieder. Ein Glück wurden auch unsere Best-Buddies ihres Kopfes entledigt und ganz nebenher, sozusagen on top, gevierteilt, verbrannt oder in Waldmeisterbrause ertränkt. Gut, das mit der Waldmeisterbrause stimmt nicht. Ich frage mich gerade, welcher kranke Teil in meinem Kopf … Zurück zum Thema: Jedenfalls müssen wir uns so nicht allein um die Aufklärung der Enthauptungshintergründe kümmern. Dabei nutzen wir für die Aufklärung weniger Stift und Zettel und scharfen Sachverstand (Hallo?! Wir haben keinen Kopf mehr!) sondern im Wesentlichen das scharfe Schwert. Wir durchqueren metzelnd und lootend verschiedene Biome – und sterben. Kein Problem für uns. Denn wir alle haben den Mut zur Mut-ation. Und die im Dungeon, Verzeihung, Biom eingesammelten Zellen helfen uns dabei. So werden wir mächtiger und erfolgreicher und treffen schließlich auf Bosse (nicht auf den Sänger Aki Bosse; das Lied „Schönste Zeit“ wäre auch unpassend).
Das Spielmaterial
Die schick illustrierte und großzügig proportionierte Spieleschachtel lädt ein. Öffnet man diese dann und ist fertig mit der Auspöppel- und Sortier-Orgie, kommt man schnell zum Schluss: Es ist schon ein Traum, wie fast perfekt das Inlay von „Dead Cells“ gestaltet wurde. Für jedes Biom gibt es ein eigenes Plättchenfach. Für die Karten gibt es ein großes Fach und mehrere Kartentrenner. Potenzial für Verbesserung: Lieber zwei oder drei Fächer statt eines Fachs. Oder statt des glatten Bodens einen geriffelten Boden. Entnimmt man nämlich die Karten, die man für die aktuelle Partie benötigt, dann drohen alle Karten wegzurutschen und umzukippen. Ich jedenfalls schaffe es selten ohne Umkippen der Karten. Tolles Detail: Für Karten, die im Laufe der Partien entsorgt werden, gibt es einen Müllschlitz. Damit sind die Karten weg (also unter dem Inlay), das Spiel bleibt aber zurücksetzbar.
Die Karten haben eine vernünftige Qualität und sollten so auch ein wiederholtes Durchspielen von „Dead Cells“ überleben. Die Spielbretter sind allesamt wertig. Das Mutationsbrett, welches den Spielfortschritt abspeichert, kommt in Doublelayer-Ausstattung daher. Das erhöht die Speicherintegrität, macht aber manchmal das Rein- und Rausfummeln der Karten aus den strammen Klarsichtfolienslots, nun ja, fummelig. Ich vermute, dass sich das über die Lebensdauer des Spiels etwas entschärfen wird.
Alle Papptoken sind angemessen dick und lassen sich gut greifen. Einige Token sind allerdings grenzwertig klein. Gerade die Loot-Token gehen in dem grafisch relativ unruhig gestalteten Lootbereich manchmal unter. Etwas mehr Größe hätte meinen trüben Augen einen Gefallen getan. Aber da suche ich schon das Haar in der sonst gut abgeschmeckten Komponenten-Suppe von „Dead Cells“. Übrigens: Da wir uns eh alle zusammen auf dem Spielbrett bewegen, gibt es eine Basis, in die wir die jeweiligen Papp-Charaktere der Spielerunde einstecken können. Wirklich nett gelöst. Und noch etwas: In die Biome werden verschiedene Pappplättchen eingebaut. Das Elegante: Jede Art von Pappplättchen hat eine andere Form. Auf diese Art ist der Aufbau besonders selbsterklärend und schnell: Kreis zu Kreis, Fünfeck zu Fünfeck, usw.
Bei der Anleitung wechseln sich Licht und Schatten ab. Erstmal: Die Übersetzung ist sehr liebevoll gelungen. Beim Durchlesen wird man sehr gut an die Hand genommen, sodass man flott loslegen kann. Beispiele unterstützen dabei. Alles prima. Was nicht gut klappt, ist der Nachschlage-Teil. Suche ich nach einem Regeldetail, finde ich das oftmals nicht. Woran liegt das trotz Schlagwortverzeichnis? Im Laufe der Partien entwickeln sich das Spiel und das Regelwerk weiter. Manchmal trifft man etwa auf Symbole, die noch nicht eingeführt worden sind. Im Regelheft findet man dazu dann Nichts oder nichts Hinreichendes. Das schafft Unsicherheit. Die Regeln zu den „verfluchten Truhen“ wiederum habe ich zu spät auf der Rückseite des Regelhefts entdeckt. Einen Verweis auf diese Effekte hatte ich im Regeltext nicht gelesen. Gerade bei einem Kampagnenspiel möchte man ja nicht total falsch unterwegs sein, um sich das Spielerlebnis nicht zu versauen. Wären Regelaufkleber besser gewesen? Ich weiß, das wäre ein Problem für die Zurücksetzbarkeit geworden. Wäre ein weiteres Regelheft für „spätere“ Regeln gut gewesen? Wahrscheinlich. Und dann mit Schlagwortverzeichnis. Ein bisschen Spoiler-Wahrscheinlichkeit wäre schon okay gewesen.
Der Spielablauf
Wir wählen ein Biom. In der ersten Partie ist das Startbiom „Gefangenenunterkünfte“ vorgegeben. Plättchen drauf, Karten aus dem Kartenfach auf das Zusatzbrett, Charakterwahl, Karten mischen und zack, geht es schon los. Das fühlt sich flott an. Das ist flott.
Wir betreten das erste Feld: eine Truhe. Plättchen umdrehen, Belohnung verteilen. Hier gibt’s schon die erste Gruppen-Entscheidung. Wessen Statistik / Talent sollen wir verbessern? Und weiter geht’s im Biom. Je nach Art des Feldes bekommen wir Ausrüstung, Goldzahn-Geld, usw., können bei einem Händler einkaufen und treffen auf Kreaturen, die uns nicht nicht wohlgesonnen ist. Egal, wir sind ihnen ja auch nicht wohlgesonnen. Hallo?! Wir haben unseren Kopf verloren. Da regiert nun mal das Rückenmark! Und wir wollen raus aus diesem Drecksloch! Manchmal müssen wir auf dem Weg Proben ablegen über das Ziehen oder Auf-der-Hand-haben einer Karte mit einem bestimmten Symbol. Da bieten die einzelnen Biome eine gewisse Abwechslung. Ding-Dong, ihr Würmer!
Wir sammeln fleißig Goldzähne, auf welche die Händler aus irgendeinem schrägen Grund abfahren, und Zelltoken, die uns später das Mutieren ermöglichen. Außerdem verbessern wir unsere Eigenschaften / Talente, für die jeder von uns gleich drei verschiedene Pfade auf seinem Enthauptetentableau vorfindet. Schließlich können wir Ausrüstungsgegenstände von unserem Ausrüstungsgegenstandsdeck ziehen und sogar Pläne für neue Ausrüstungen ergattern. Um die neuen Ausrüstungsgegenstände nutzen zu können, müssen wir das Biom aber überleben. Wir haben schließlich nur die Pläne erhalten. Jemand muss das Zeug erstmal für uns bauen. Jeder von uns schaltet im Laufe der Partie eigene Talente frei, die unsere Taktik stark beeinflussen werden.
Schließlich erreicht man einen von zwei Ausgängen, die in ihrer Eigenschaft gleichzeitig auch Eingänge für das nächste Biom darstellen. Doch bevor es in das zweite Biom geht, dürfen wir uns im sogenannten Interbiom beim Händler noch Ausrüstung kaufen und uns heilen. Hat man beide Biome durchquert, wartet DER Boss. Nein, nicht DER Boss, also es gibt hier kein „Born to run“-Ständchen. Es wartet einfach EIN Boss, der unsere Klinge spüren will. So interpretiert unsere geschundene Mannschaft das eben. Gewinnen wir auch hier, gibt’s nochmal ein paar Zellen on top. Und dann geht es ab in die Mutation!
Bereits ein toter Untoter in unserem Kopflos-Team reicht für die vorzeitige Beendigung des Spiels. Doch frei nach „Flitterabend“ mit Michael Schanze (wer das nicht kennt, bitte googlen) gibt es auch bei „Dead Cells“ das Motto: „Verlieren ist für Euch nicht bitter, hier kommt unser Bobby Flitter.“ Gut, Bobby Flitter kommt nicht (RIP, Bruno Horn). Aber wir dürfen uns auch ohne Boss-Kill an den unterschiedlichen Mutationskartenstapeln bedienen, solange wir diese mit den vorher gesammelten Zellen bezahlen können. Diese Mutationen sind der einzige Fortschritt, den wir in die nächsten Partien mitnehmen!
Insgesamt vier Stapel stehen uns zur Mutation bereit: Überleben, Taktik, Brutalität und natürlich, möchte man sagen, der Wunschbrunnen. Wir erhalten so neue Kampfkarten für unser Deck, neue Startfähigkeiten respektive -privilegien, neue Fähigkeiten während des Spiels und einen performanteren Händler – und manchmal auch einen geheimen Gegenstand! Es warten so viele Überraschungen in diesen Decks. So viel sei gesagt: Es bleibt auch über viele Partien interessant. Bevor es zum Spielgefühl geht, sei noch kurz der Ablauf der Kämpfe beschrieben.
Der Kampf in „Dead Cells“ ist sehr reduziert, aber taktisch. Regel Nummer eins: Die Gruppe darf sich nur KURZ und ohne Beschreibung von Details vor dem Ausspielen der Kampfkarte absprechen. Kampfkarte? Ja, jeder spielt pro Kampf wirklich nur eine einzige Karte aus. Gut, im Spiel zu zweit darf ein Spieler zwei Karten ausspielen. Auf den Punkt gebracht, werden in der Gruppe unabhängig von der Spielerzahl genau drei Karten ausgespielt. Jeder Kampf ist mit Vorgeplänkel und Nachspielzeit in drei Runden unterteilt. Je nachdem, wie sich die Gegner auf dem Kampftableau genau aufgebaut haben, werden die Aktionen rundenweise von links nach rechts abgehandelt. Oft sind wir zuerst dran. Eröffnet wird der Kampf mit „Runde 0“-Effekten. Da könnten schon mal Schaden oder Zustände ausgeteilt werden. Die Zustände sorgen für taktische Elemente im Kampf. Ein blutender Gegner stirbt auf jeden Fall am Ende der Runde 3. Ein verbrannter Gegner stirbt direkt, wenn er seine zweite Verbrennung erleidet. Ein vergifteter Gegner verliert am Ende jeder Runde ein Leben. Und so weiter. Damit ist die Aufgabe klar: Schaden im Team unter Verwendung der Zustände so geschickt verteilen, dass man selbst so wenig wie möglich einsteckt – und dabei die Effekte der Gegner im Blick haben. Die Ausrüstungsgegenstände erlauben uns manchmal Alternativ-Aktionen oder zusätzliche Aktionen zu denen auf unserer Kampfkarte. Und das Zahnradsymbol erlaubt jedem Charakter eine andere Aktion, abhängig von seinem Fortschritt auf der Zahrradsymbol-Leiste. Der Tod unserer Gegner bringt uns oft etwas Loot und/oder verhindert einen Effekt, der uns Schaden zufügen würde. Darüber hinaus können wir aber auch den lose herumliegenden Loot looten mittels Loot-Aktion. Loot! Loot! Und das vollkommen unabhängig vom Gesundheitszustand der Gegner … What a feature!
Nach drei Runden ist der Kampf vorbei, ob nun alle Gegner tot sind oder nicht. Runde-Vier-Effekte werden noch abgehandelt. Und weiter geht’s im Biom, wenn wir alle noch leben – so als Untote.
Das Spielgefühl
„Dead Cells“ steht für gefühlt unschaffbare Biom-Level. „Dead Cells“ steht für problemlose Spaziergänge durch’s Biom. Und für alles dazwischen. Wir hatten eine Partie, in der wir im Prinzip ohne einen einzigen Kratzer durch beide Biome gekommen sind und dann grandios beim Boss gescheitert sind. Wir hatten einfach keine passende Ausrüstung und schlechte Kampfkarten für den Boss. Beim nächsten Mal sind wir schlauer.
„Dead Cells“ steht auch für ein unfassbar reduziertes und elegantes Spielsystem. Das Spiel flutscht einfach, wenn man gar nicht nach Regeln sucht. Der Kampf ist ruck-zuck abgehandelt – so wie der ganze Weg durchs Biom. Manchmal ist man übermächtig, weil man das Glück hatte, schon früh einen krassen Gegenstand erhalten zu haben. Manchmal gibt es definitiv keine Möglichkeit, einen Kampf zu überleben. Beides fühlt sich erstaunlicherweise gut an. Warum? Weil man sich einfach unglaublich auf die Mutationsdecks freut. Und ganz besonders auf den Wunschbrunnen. Aber ich werde nicht spoilern, warum man sich so auf den Wunschbrunnen freut. Die Charakterentwicklung sowie der Fortschritt der Gruppe sind schlicht herrlich belohnend.
Kann man das Spiel mit wechselnden Gruppen spielen? Unbedingt! Das ist eine der großen Stärken von „Dead Cells“. Alle Mutationskarten werden vor jeder Partie auf die teilnehmenden Charaktere aufgeteilt. Kein Fortschritt ist fest mit einem Charakter verknüpft. Das ist wunderbar elegant und funktioniert super. Auch das Mutationsbrett ist flexibel bestückbar. So kann man sich als Team während des Spielaufbaus überlegen, wie man unterwegs sein will. Mehr Partien (auch in anderen Gruppen) bieten dann einfach mehr Möglichkeiten. Auch wenn drei Spieler die gefühlt optimale Spieleranzahl ist, funktioniert das Spiel ebenso zu zweit und zu viert wunderbar.
Richtig gut finde ich das Ausrüstungskartendeck. Anfangs mit den Startgegenständen versehen, ziehen wir, wenn wir dürfen, eine Karte vom Deck und weisen sie einem Enthaupteten für Zusatzfähigkeiten zu. Im Laufe des Spiels bekommt man aus den einzelnen Biomen neue Karten hinzu, die in das Ausrüstungskartendeck eingemischt werden. Ab und an darf man das Deck ausdünnen. So bekommt man zufällig Ausrüstungsgegenstände, die einerseits unsere Kampftaktik ändern und so für Abwechslung in den Kämpfen sorgen. Andererseits wird so auch auf eine schöne Weise der Entwicklungsfortschritt der Gruppe dargestellt. Mächtigere Gegenstände kommen sukzessive ins Spiel. Das ist eine schöne weitere Ebene neben der Aufrüstung der Kampfkarten und den Eigenschaften, die auf dem Mutationsbrett festgehalten werden.
Fazit: „Dead Cells“ ist ein kooperatives, kampagnenartiges Spiel, das unglaublich flott ist. Durch seine „Rogue-lite“-Natur ist es eher nichts für Taktiker, die in jeder Partie ein perfekt ausbalanciertes Spielerlebnis auf Messers Schneide erleben möchten. Verlieren tut bei „Dead Cells“ nicht weh, weil man Bobby-Flitter-like endlich mutieren darf. Mutation macht Spaß und ist das A&O für das Durchqueren der Biome. „Dead Cells“ gelingt das Kunststück, dass es auch mit mehreren Gruppen parallel spielbar ist. Die ganze Darbietung des Spiels ist großartig. Nur die Nachschlagbarkeit der Regeln und das Einführen neuer Regeln hätte fluffiger sein dürfen. Insgesamt stimmt es aber doch, was Bosse so singt: „Das war die schönste Zeit.“ und auch was DER Boss singt: „Baby, we were born to run!“, also durch die Biome. Kopflos zwar, aber doch mit vielen taktischen Entscheidungen innerhalb der Gruppe.
Dead Cells: Das Rogue-Lite Brettspiel
Brettspiel für 1 bis 4 Spieler ab 10 Jahren
Antoine Bauza, Corentin Lebrat, Ludovic Maublanc, Théo Rivière
Frosted Games 2025
EAN: 0739805889021
Sprache: Deutsch
Preis 89,95 EUR
bei frostedgames.de bestellen