Das Haus am See 2

„Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten“, schrieb Jean-Jacques Rousseau (1712-1778). „Aber wir werden niemals dankbar sein für einen Käfig, in dem wir unfreiwillig sitzen“, schreibt James Tynion IV. Welcher Käfig existiert im „Haus am See“? Gibt es einen lebenswerten Ausweg für die zehn Freunde? Metaphorisch und mit dem Hauch eines Schreckens steuert der DC Schocker von Panini Comics dem Finale zu!

von Daniel Pabst

Der zweite Teil des DC Schockers „Das Haus am See“ ist bei Panini Comics erschienen. Auf 196 Seiten erzählt uns James Tynion IV, wie der Sommertrip der Freunde weitergeht. Die Zeichnungen stammen abermals von Álvaro Martínez Bueno. Die Farben kommen wieder von Jordie Bellaire. Damit geht die Erzählung nahtlos weiter. Aus den 7 Tagen am See wurden bereits über 40 Tage! Was macht das mit den Freunden?

Die gemeinsame Zeit im Haus am See lässt Konflikte aus vergangenen Zeiten aufleben. Vermehrt treten verdrängte Gedanken und Erinnerungen in den Vordergrund. Jede und jeder versucht sich einen eigenen Reim auf die Isolation zu machen. Wobei: Können sie ihren Erinnerungen überhaupt trauen? Bei einer so abrupten wie unnormalen Wandlung des verheißungsvollen Urlaubs hin zum Endzeit-Szenario, scheinen alle Gesetze aufgehoben zu sein. Einzig der Überlebenswille hält sie zusammen.

Wobei: Keiner der Freunde hat einen Beweis dafür, dass sie tatsächlich die einzig lebendigen Menschen sind, nachdem – in „Das Haus am See 1“ – ein „Feuersturm“ über die Erde gezogen sein soll. Doch keiner von ihnen traut sich ihren „Fleck“ – das Urlaubsdomizil – zu verlassen und der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Dafür nehmen sie in Kauf, dass ihr Bewegungsradius – ihre Freiheit – arg eingegrenzt wird.

Aber warum, so könnte man sich fragen, sollten die Freunde das Haus auch verlassen, wenn es ihnen nichts mangelt? Sie haben doch ein gigantisches Haus am See, dessen Inneres über eine Grotte mit Pool, einen Spa, einen Floating-Tank, einen Kinosaal, eine Bücherei und eine Empfangshalle mit Konzertflügel verfügt und in dem die Kühlschränke jeden Tag gefüllt werden und die Zimmer der Gäste schön hergerichtet sind. Zudem erweitern sie ihr Paradies in „Das Haus am See 2“ durch ein futuristisches Baumhaus. Alles wunderbar!

Der Horror entfaltet sich in „Das Haus am See 2“ sehr schleichend. Es gibt keinen Splatter, keinen Jump-Scare und nur ein wenig Bodyhorror. Dafür nehmen die Science-Fiction-Elemente zu. Im Vordergrund des Comics steht das soziale Miteinander der Freunde. Das hat auch etwas mit ihren verschiedenen Berufen zu tun, die da wären: ein Künstler, ein Schriftsteller, ein Schauspieler, ein Historiker, ein Musiker, ein Mathematiker, ein Arzt, ein Wissenschaftler, ein Politiker und ein Mensch des Glaubens. Wieso nur wurden sie „auserwählt“?

Und dann ist da natürlich noch der Gastgeber: Walter. Dessen Gesichtszüge entgleisen zunehmend und verschwimmen zu einer sonderbaren Form. Das Zusammenleben scheint Walter wie von Geisterhand zu dirigieren – und dennoch merken die „Insassen“ des Hauses allmählich, dass sie sich nicht länger vor der Beantwortung der alles entscheidenden Frage drücken können: Wie wollen sie weiter (zusammen-)leben?

Die Zeichnungen und die Farben passen vortrefflich zur dieser metaphorischen und soziologischen Geschichte. Álvaro Martínez Bueno zeichnet die Figuren rau und unscharf. Die Gesichter sind durch viele Striche geprägt. Die Nasen und Augen der Figuren verschwinden oder sind nur angedeutet. Je weiter die Charaktere an den Rand der Verzweiflung getrieben werden, desto verwaschener und dunkler wird die Farbgebung von Jordie Bellaire. In manchen Panels sehe wir allein weiße Sprechblasen auf schwarzem Hintergrund. Auch gibt es Seiten, auf denen nur Sätze stehen, welche von einem „Wesen“ hinter einem Spiegel geschrieben werden …

Dieser Comic ist mysteriös und ganz anders als man es bei einem „DC Schocker“ hätte vermuten können. Die Spannung um des Rätsels Lösung steigt von Seite zu Seite. Besonders intensiv sind die Beziehungsgeflechte. James Tynion IV hat hier auf ganz verschiedenen Ebenen gearbeitet. Dabei entstehen beim Lesen mehr Fragen als es Antworten gibt: Allen voran die Frage nach der „Freiheit“ – einem großen Begriff. Stets werden wir beim Lesen dieses Comic-Zweiteilers damit konfrontiert, wie wir uns selbst wohl im „Haus am See“ verhalten hätte? Das allein macht „Das Haus am See“ (Originaltitel: „The nice House on the Lake“) schon lesenswert.

Leseprobe

Fazit: James Tynion IV, Álvaro Martínez Bueno und Jordie Bellaire haben mit „Das Haus am See 2“ eine Fortsetzung erdacht und gezeichnet, die einen beschäftigt. Wer klassischen Horror erwartet, der wird hier allerdings zum falschen Werk greifen. Wer etwas sucht, das Fragezeichen hervorruft und beim Nachdenken unterhält, der findet hierin dagegen das richtige Werk. Mag auch der eingangs gewählte Vergleich mit Jean-Jacques Rousseau stark hinken, so gibt „Das Haus am See“ Anlass, sich zu fragen, welche Ketten wir uns anlegen und welche nicht. Wer wissen will, ob sich die Freunde am Ende des Comics die Freiheit nehmen lassen werden, der hat jetzt die Wahl, es herauszufinden. Eine empfehlenswerte Lektüre, die insgesamt nachdenklich stimmt.

Das Haus am See 2
Comic
James Tynion IV, Álvaro Martínez Bueno
Panini Comics 2023
ISBN: 978-3-7416-2978-5
196 S., Softcover, deutsch
Preis: EUR 25,00

bei amazon.de bestellen