Zona – Das Geheimnis von Tschernobyl

Die Atomkatastrophe von Tschernobyl im Frühjahr 1986 erschütterte seinerzeit Europa und änderte unseren Blick auf die Gefahren der Atomkraft. Noch immer ist das Gebiet im Norden der heutigen Ukraine unbewohnbar. Die Zone ist Sperrgebiet. Doch wie so oft beflügeln Orte des Schreckens auch die Fantasie. So kam 2007 das PC-Spiel „Stalker: Shadow of Chernobyl“ heraus (das zwei Fortsetzungen und diverse Romane nach sich zog), und mit „Zona – Das Geheimnis von Tschernobyl“ liegt nun eine davon inspirierte Brettspiel-Variante vor.

von Frank Stein

„Zona“ ist ein semi-kompetitives Abenteuerspiel für 1 bis 4 Spieler ab 18 Jahren. Die Alterseinstufung (von Seiten des Herstellers, es gibt keine FSK für Brettspiele) ist dabei nicht etwa den ungewöhnlich komplexen Regeln oder besonders brutalem Bildmaterial geschuldet, sondern soll wohl dem Umstand Rechnung tragen, dass man in „Zona“ Plünderer spielt, die nur sich selbst am nächsten sind und dafür auch mal andere Menschen über die Klinge springen lassen. Vielleicht soll es auch der ziemlich tristen, hoffnungslosen Geschichte Tribut zollen, die kaum ein Happy End kennt, selbst wenn man als Erster den „Sarkophag“ erreicht, jene Kuppel aus Stahl und Beton um den havarierten Reaktor, die unfassbare Geheimnisse bergen soll. So oder so ist das Spiel meines Erachtens auch problemlos ab 16 spielbar. Jüngeren würde ich es nicht empfehlen. Als Familienspiel an einem heiteren Samstagnachmittag taugt es definitiv nicht!

Damit sollte aber auch niemand rechnen, der das Cover von „Zona“ sieht. Eine abgerissene, krank wirkende, bewaffnete Plünderin bewegt sich darauf durch ein graues Niemandsland. Auch das Spielmaterial im Inneren führt diese düstere Optik weiter – was nicht heißen soll, dass es nicht bunt zuginge! Von giftgrün über fleckig orange und radioaktiv gelb bis blutrot und schmutzig violett sind alle Farbtöne enthalten, die irgendwie krank wirken. Die Pappteile – egal ob Charaktertableau oder Spielmarker – sind bretthart und neigen nicht zum Wellen. Die Spielkarten wirken hochwertig und lassen sich gut mischen. Die Plastikminiaturen erfreuen durch einen hohen Detailgrad und einen ziemlich sauberen Guss; sie laden geradezu zum Bemalen ein. Und die Illustrationen der Glücksritter, der Anomalien, Bestien und Ausrüstungsgegenstände sehen ebenfalls sehr gelungen aus. In dem Punkt liefern die Macher wirklich ordentlich ab.



Das Regelwerk ist an sich gut strukturiert und biete viele Beispiele, um das Beschriebene besser zu verstehen. Wie es bei so komplexen Spielen ganz gern mal der Fall ist, werden nicht alle Eventualitäten von dem 28-seitigen Heft abgedeckt, aber wir konnten uns während der Partien stets mit gesundem Menschenverstand (oder schlicht einer einvernehmlichen Einigung, wie die Regeln zu interpretieren wären) weiterhelfen. Schon nach der zweiten Partie wurde Blättern daher deutlich seltener.

Ein merkliches Manko existiert aber – und das ist leider die deutsche Übersetzung. Die hat an einigen Stellen  schlampig gearbeitet. Ein Rechtschreibfehler hier, ein Zeichensetzungsfehler dort, darüber lässt sich hinwegsehen. Doch dass spielrelevante Begriffe zum Teil nicht einheitlich oder gar ganz falsch übersetzt wurden, ist schon etwas ärgerlich. So heißt es etwa auf dem Charakterbogen des „Jägers“ Valerian Kruglov bei der Spezialfähigkeit „Pirsch“: „Wenn du bei einer [Wachsamkeit]-Begegnung eine [Monster]-Probe schaffst.“ Das ergibt keinen Sinn und müsste natürlich umgekehrt lauten. Auf einer Begegnungskarte steht zweimal exakt derselbe Text untereinander, einmal als Fluff-Text, einmal (anscheinend) als Auswirkungstext – der jedoch unsinnig wirkt. Die Gerüchtekarte „Eiskalter Regen“ wirft Fragen auf, weil man aufgefordert wird, einen Marker auf ein Feld zu legen – ohne dass klar wäre, was das für Auswirkungen hat. Die Möglichkeit, einen Würfel neu zu werfen, heißt mal „besseres Ergebnis erzwingen“, mal „anderes Ergebnis erzwingen“. Und schließlich taucht die „Ausruhen“-Aktion im Regelwerk zweimal auf (einmal unter Aktionen, einmal im Zusammenhang mit Bunkeraktionen) – und sie hat völlig unterschiedliche Auswirkungen! Dabei wurden zwei verschiedene Begriffe – im Englischen „Rest“ und „Camp“ – auf verwirrende Weise zusammengeschmissen, was dazu führt, dass man „Ausruhen“ mitunter völlig falsch nutzt. Das sind nur ein paar Beispiele, die wir allein während unserer ersten Partie gefunden haben. Nichts davon zerstört den Spielspaß, aber hier und da gerät man schon ins Grübeln, bis man versteht, dass der Fehler im Text liegt und nicht bei einem selbst. Hier wäre eine weitere Runde Lektorat wirklich wünschenswert gewesen.



Aber wie spielt sich „Zona“ nun eigentlich?

Wie bei Abenteuerspielen üblich, wählt man zu Beginn einen Charakter, der eine Startausrüstung erhält Bei „Zona“ sind das etwa der Einzelgänger Oleg Voronin, genannt „Bär“, die Wissenschaftlerin Lidya Gavrilov, genannt „Schlaubi“ (ja, sind wir denn noch in den 1980ern?) oder der Säufer Kostia Fiodorov, genannt „Professor“. Damit ist „Zona“ vermutlich das einzige Spiel auf dem Markt, in dem man einen abgehalfterten Alkoholiker verkörpern kann. Diese Plünderer bewegen sich über eine Landschaftskarte, die grob die „Zona“ östlich des Atomkraftwerks abbildet und in zahlreiche Orte unterteilt ist, die sich zu drei Sektoren (grün, gelb und rot) gruppieren. Man kann sich denken, dass das Leben der Plünderer schwerer wird, je näher sie dem Reaktor unter dem Sarkophag kommen. Ziel des Spiels ist es, eben diesen Sarkophag zu betreten. Dafür muss man aber zuvor Informationen aus zwei verschiedenen geheimen Orten bergen. Zur Auswahl stehen hier die Strahlungswarte, das botanische Labor, der Regierungsbunker und das unterirdische Archiv. Um diese wiederum betreten zu können, muss man die Anforderungen auf den jeweiligen (zufällig gelegten) Schlossmarkern erfüllen können. Mal kostet der Zutritt 1000 Rubel (also 11,49 Euro), mal muss man 6 Punkte Strahlungsschaden wegstecken, mal den eigenen Ruf von gut zu schlecht drehen können. Um Geld zu bekommen, muss man Trophäen (besiegte Monster), Artefakte (aus Anomalien) oder Ausrüstung verkaufen. Schäden lässt sich durch gute Rüstungen abfangen, die man zuvor erwerben muss. Der Ruf wird durch Ereignisse verbessert.



So wandert man Runde um Runde über das Spielfeld, bekämpft Monster, trotzt Anomalien, kauft und verkauft Gegenstände und versucht, sukzessive besser zu werden, damit man nicht nur die Gefahren der geheimen Orte bewältigen kann, sondern auch am Ende die besonders knackige Herausforderung des Sarkophags übersteht (denn von dort gibt es kein Zurück – wer hineingeht, siegt oder stirbt). Dafür stehen jedem Spieler pro Runde zwei Aktionen zur Verfügung, was sich meist zu wenig anfühlt. Nach dieser Aktionsphase folgt die Ereignisphase, die – ebenfalls typisch für Abenteuerspiele – das zentrale Spielelement der Ereignisse bringt. Ereigniskartenstapel gibt es für die Sektoren, die geheimen Orte und den Sarkophag und sie alle enthalten neben kleinen, für sich stehenden Erzählelementen besonders knifflige Proben, die die Plünderer mithilfe ihrer Attribute und Ausrüstung bestehen müssen.

Die Fähigkeit zur Würfelmanipulation ist bei diesen Proben extrem wichtig. Denn grundsätzlich sind die  Spezialwürfel erstmal nicht auf der Seite der Spieler. Doch man kann sich sowohl „erschöpfen“ als auch Gegenstände nutzen, um Neuwürfe zu erlauben und so weitere „+“-Ergebnisse erzwingen oder „-“-Ergebnisse neutralisieren. Je nach Schwierigkeit einer Probe werden 1 bis (selten) 5 Erfolge gefordert. Erfolgreiche Proben bringen meist Belohnungen in Form von Trophäen, Artefakten oder eben Ausrüstung ein, die im weiteren Verlauf nützlich sind.



In einer dritten Phase, der Gerüchtephase, wird eine Karte gezogen, die ganz gern einen brettweiten negativen Effekt hat. Auch das ist nichts Neues, das kennt man spätestens seit „Arkham Horror – Zweite Edition“ (2005). Brisant hier, dass zusätzlich ein Strahlungslevel ansteigt, das alle paar Runden eine Strahlungswelle durch die Zona jagt. Die tötet alle Monster, zerstört alle Anomalien, fegt den Marktplatz leer und setzt auch den Plünderern heftig zu, wenn die nicht zu der Zeit in einem sicheren Bunker sitzen. Danach entsteht das Leben in der Zona neu. Neue Gegner und Gefahren tauchen auf und neue Händler bringen frische Waren mit. Ein netter Mechanismus, um immer wieder für Abwechslung auf dem Brett zu sorgen.

Es gibt noch diverse kleinere Mechanismen, aber ich will hier nicht zu sehr ins Detail gehen. Es genügt zu sagen, dass es „Zona“ sehr gut gelingt, seine Atmosphäre zu verströmen. Das geht bis hin zur ständigen Mangelverwaltung. So richtig gut geht es einem als Plünderer nie, was für etwas gefühlten Stillstand im Mittelteil sorgt. „Zona“ ist natürlich nicht ohne Ende. Ist der Gerüchtestapel leer, löscht die Strahlung alles aus und alle haben verloren. Doch dieser Stapel ist so dick, dass man einen ganzen Nachmittag und Abend mit dem Spiel verbringen könnte, wenn man will. In der Regel kommt irgendwann der Punkt, da muss jemand sagen: „Verdammt, ich wage mich jetzt in den Sarkophag – egal, wie es endet“. Und es endet gern … bizarr. Das ist vielleicht das größte Manko des Spiels. Da hat man sich stundenlang abgerackert, um in den Sarkophag zu gelangen, und dann erhält man am Schluss einen finalen Erzähltext, der vielleicht trist, vielleicht seltsam, vielleicht nachgerade niederschmetternd ist. Das muss man mögen. Sonst geht man aus der Partie raus und ist irgendwie nicht so richtig glücklich damit.



Wie bei allen Abenteuerspielen hat auch „Zona“ nur einen begrenzten Wiederspielwert. Am Anfang ist noch alles neu und spannend, aber wenn sich nach zwei bis drei Partien die Ereignisse zunehmend wiederholen, dann ist ein wenig die Luft raus. Es ist auch nicht jeder Plünderer so attraktiv, dass man sie alle durchtesten will. Und selbst wenn, würde sich am Spielgeschehen grundsätzlich nichts ändern: Ziehe durch die Zona, besuche zwei geheime Orte, dringe in den Sarkophag vor. Da haben Dungeon Crawler mit Kampagnenmodus irgendwie mehr Zugkraft. Zumindest, wenn man sich in ein Spiel verbeißen will. „Zona“ ist eher ein Spiel, das man ein bis zwei Mal spielt, um es dann in den Schrank zu stellen und vielleicht nach einem Jahr wieder hervorzuholen. Sofern es einem nicht doch zu düster war.

Fazit: „Zona“ punktet definitiv durch seine schicke Aufmachung und die gelungen düstere Atmosphäre. Hier findet kaum ein Spieler sein Glück, selbst im Sieg nicht. Wer Spaß an solchen Endzeit-Szenarien hat (und etwa die ironische Brechung des „Fallout“-Franchises nicht mag), der ist hier genau richtig. Für zeitnah wiederholte Partien bietet es sich zwar nur bedingt an, aber „immer mal wieder“ hervorholen kann man es absolut. Abzüge in der B-Note gibt es für die teils schlampige Übersetzung von Regelbegriffen. Der Preis von knapp 50 Euro geht bei der schweren, gut gefüllten Box übrigens völlig in Ordnung.

Zona – Das Geheimnis von Tschernobyl

Brettspiel für 1 bis 4 Spieler ab 18 Jahren
Krzysztof Glosnicki, Maciej Drewing
Corax Games 2020
EAN: 7108442309606
Sprache: Deutsch
Preis: 49,99

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