von Alice
Alex Green ist gerade mal 16, als sie von ihrem Vater aus dem eigenen Haus vertrieben wird. Er sucht ihr eine günstige, heruntergekommene Wohnung, in der sie von nun an Leben soll, während er selbst mit einer neuen Partnerin eine weitere Familie gründet. Seit Alex’ Mutter gestorben ist, will er nichts mehr von seinen beiden Töchtern wissen. Alex schlüpft nun in die Mutterrolle für ihre deutlich jüngere Schwester Beatrice, obwohl sie selbst noch zur Schule geht. Ihr Vater möchte den Skandal vertuschen, um sein Ansehen zu erhalten. Alex unterstützt dies, weil sie fürchtet, sonst von ihrer kleinen Schwester getrennt zu werden.
Unter beschwerlichen familiären Umständen wachsen sie nun auf in einer Gesellschaft, die zudem wenig für Frauen übrig hat. Alex ist schulisch sehr begabt und würde gern studieren, doch erhält sie dafür wenig Anerkennung, da von ihr eher erwartet wird, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Dies hat sie jedoch nicht vor, und sie hat mit Beatrice ohnehin schon genug Erziehungsarbeit zu vollbringen. Alex hat ihre Schwester unfassbar lieb, doch gibt es ein Problem, das sie vor eine große Herausforderung stellt: Ständig malt Beatrice Bilder von Drachen und sagt, sie möchte selbst eine Drachin werden. Hierbei handelt es sich jedoch um ein Tabuthema, weshalb sie in der Schule dafür bestraft wird. Seit einiger Zeit gibt es immer wieder Frauen, denen plötzlich Schuppen, Krallen und Flügel wachsen, bis sie sich vollständig in einen Drachen verwandelt haben. Diese sind gesellschaftlich jedoch verpönt und werden so gut wie möglich ignoriert.
Drachinnen sind nicht das einzige Tabuthema in diesem Roman, Alex’ Alltag ist voll von Tabus. Als sie zum ersten mal ihre Periode bekommt, traut sie sich nicht darüber zu sprechen. Warum sie sich zu Frauen mehr hingezogen fühlt als zu Männern, begreift sie selbst erst sehr spät, doch ihr Umfeld reagiert mit Verachtung darauf. An der Schule wird Alex wegen ihres Talents ausgenutzt, indem sie Lehrern kostenlos assistiert. Wenn sie sich wehrt, besteht die Gefahr, dass sie nicht studieren darf. Der Roman spielt in den 1950igern in Wisconsin, in einer Zeit, in der es Frauen häufig deutlich schwerer hatten als heute. Manche der genannten Problematiken lassen sie jedoch durchaus auf die heutige Zeit übertragen. Zudem erstaunlich ist, dass die Handlung auch in Deutschland spielen könnte und es wäre kaum aufgefallen. Die Parallelen sind bemerkenswert.
Das Buch ist durchaus gelungen, problematisch ist nur, dass man mit hoher Wahrscheinlichkeit etwas anderes bekommt, als man erwartet. Das Cover und vor allem der Text auf der Buchrückseite suggerieren einen deutlich höheren Fantasy-Anteil als dieses Buch hat. Die Drachen gewinnen erst gegen Ende an Bedeutung, aber eigentlich würde die Geschichte auch vollständig ohne Drachen ihre Wirkung erzielen, denn diese spielen nur am Rande eine Rolle. Viel mehr fungieren sie als eine Verkörperung der Wut von unterdrückten Frauen. Nachdem die Verwandlung eingetreten ist, bringen einige ihren unliebsamen Gatten einfach um. Eigentlich wollen die Drachinnen aber nur ein friedliches und vor allem unabhängiges Leben führen. Die Verwandlung kann verhindert werden, was darauf hindeutet, dass man sich für die Unabhängigkeit bereit fühlen muss. Vereinzelte finden auch in ihrer menschlichen Gestalt einen Weg aus der Unterdrückung.
Man erhält somit vor allem einen gesellschaftskritischen Roman, mit Schwerpunkt auf die Rolle der Frau. Zahlreiche interessante Themen regen zum Nachdenken an, können zwischendurch jedoch auch schwermütig stimmen, das es sehr lange dauert, bis Alex endlich einen Ausweg findet. Etwas unklar bleibt zudem, warum die Drachinnen auch diejenigen im Stich gelassen haben, die sie in ihrem vorherigen Leben geliebt haben. Mit ihren neuen Kräften hätten sie jene direkt nach der Wandlung unterstützen können. Beinahe schon absurd ist übrigens, dass nur nebenbei erwähnt wird, wie die Drachinnen durchs Weltall fliegen können. Dies passt nicht so ganz zum Rest der Geschichte, wird aber auch nicht weiter vertieft.
Fazit: Hierbei handelt es sich um einen gesellschaftskritischen Roman, mit Schwerpunkt auf die Rolle der Frau in den 1950ern. Dies wurde fesselnd umgesetzt und regt zum Nachdenken an. Die Drachen sorgen für Abwechslung, sind aber nur bedingt von Bedeutung, was vom Cover und der Buchrückseite anders suggeriert wird.
When Women Were Dragons
Fantasy-Roman
Kelly Barnhill
Cross Cult 2024
ISBN: 978-3-98666-648-4
448 S., Paperback, deutsch
Preis: 18,00 EUR
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